Friedliche Streitkultur

Hier ist er, der ganz große Grünen-Krach, meinen die Medien. Doch gestritten wird so wenig wie eh und je.

Man muß die Grünen nicht besonders lieben, um zuzugestehen, daß sich regelmäßiger Streit bei ihnen nicht wie bei den anderen Parteien an Personalfragen entzündet, sondern an inhaltlichen Positionen. Das ist zum einen der alternativen Vergangenheit der einstigen Sponti-Partei zu verdanken, die dazu führt, daß - bei aller Liebe zu "unserem Joschka", respektive "unserem Jürgen" - eine gewisse Scheu vor allzu deutlicher Personalisierung bis heute zur politischen Kultur der Grünen gehört. Zum anderen haben sich die Grünen, anders als diejenigen Parteien, die sie selbst gerne als "die Etablierten" bezeichnen, nie Gremien und Mechanismen zugelegt, die innerparteiliche Differenzen im Hintergrund beseitigen und für ein geschlossenes Gesamtbild sorgen könnten. Die Geschichte der Grünen erscheint deswegen als eine Geschichte der Kräche. Der Partei hat das allerdings bislang nicht geschadet. Im Gegenteil haben es die Grünen verstanden, ihrer Anhängerschaft den angeblichen Dauerstreit als integralen Bestandteil der eigenen Identität nahezubringen.

Die Tatsache, daß bei den Grünen offenbar ständig gestritten wird, hat dazu geführt, daß die politische Kultur in der Partei etwas gepflegter ist als bei den anderen, die dieselben Differenzen unter Ausschluß der Öffentlichkeit austragen. Selten wird man, selbst unter dem Siegel der Vertraulichkeit, von einem Vertreter der Grünen Beschimpfungen der eigenen Parteifreunde von der Art zu hören bekommen, wie von Politikern praktisch aller anderen Parteien. Wer seine Differenzen öffentlich austrägt, der muß darauf achten, nicht sein Gesicht zu verlieren.

Fast jeder der grünen Eklats hat bislang politische Positionen der Partei verändert. Doch die Zeiten, als solche Verschiebungen, die in aller Regel nach rechts erfolgten, Abspaltungen verursachten, sind längst vorbei. Längst haben alle Ditfurths und Ebermanns die Partei verlassen, und auch die seit Beginn der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen wieder gebräuchliche Unterscheidung in "Fundis" und "Realos" gehört auf den Müll. An der Realpolitik orientieren sich längst auch die sogenannten Fundamentalisten. Das Paradigma lautet: "Kohl ablösen". Der Streit dreht sich im Kern lediglich darum, wie solches am besten zu bewerkstelligen sei.

Die Medien haben die bündnisgrüne Streitkultur bislang eher wohlwollend begleitet - schließlich lieferte sie immer wieder einmal gute Geschichten und kam der Transparenz schon recht nahe, die Journalisten sich von der Politik wünschen. Die Grünen konnten umgekehrt dankbar sein, daß auf diese Weise weit über die eigene Anhängerschaft hinaus die Positionen der Partei bekannt wurden. Doch sechs Monate vor der Bundestagswahl meinen die Kommentatoren ihn nun entdeckt zu haben: Den "großen Streit" bei den Grünen. An den Diskussionen um die Forderung nach einer Kerosinsteuer und höheren Benzinpreisen sowie um die Ost-Erweiterung der Nato, so scheint es, könnten die Bündnisgrünen zerbrechen.

Was an den neuen Auseinandersetzungen allerdings so sehr viel anders sein soll als an denen, die man bisher von den Grünen kannte, bleibt das Geheimnis der Kolumnisten. Die Aufregung über die fünf Mark fürs Benzin - eine alte Forderung der Grünen übrigens, die schon vor vier Jahren die Automobilindustrie in Rage brachte und damals gegen den erbitterteten Widerstand der Parteilinken durchgesetzt wurde, die sie als unsozial kritisierte - ging von Gerhard Schröder aus, der sich davon in den rot-grünen Verteilungskämpfen eine Vorteil erwartete. Innerhalb der Grünen wurde dagegen erstaunlich wenig gestritten. Lediglich einige Hardcore-Neoliberale wie der hessische Fraktionsvorsitzende Alexander Müller versuchten die Stimmung zu nutzen, um die Partei weiter in Richtung "Regierungsfähigkeit" zu drängen. Ansonsten betonten auffällig viele Vertreter der Parteirechten, wie der Yuppie-Parlamentarier Matthias Berninger und der baden-württembergische Fraktionschef Fritz Kuhn, daß es bei der Forderung bleiben müsse.

Ganz ähnliches war zu beobachten, als der Bundestag in der vergangenen Woche seine Zustimmung zur Ost-Erweiterung der Nato abgab. 14 Abgeordnete der Grünen stimmten für die Ausdehnung des Militärbündnisses, sechs dagegen, 25 enthielten sich der Stimme. Aber Streit? Gestritten wurden die Grünen vor allem von Vertretern der Regierungskoalition und der SPD, die ihnen - bei einem Abstimmungsergebnis von 89 Prozent für die Nato-Vergößerung - ihr gespaltenes Verhältnis zur Ausdehnung des westlichen Machtbereichs vorwarfen. Doch die Grünen-Abgeordneten selbst übten sich wieder einmal in Disziplin. Gegner der Erweiterung wie Angelika Beer und Befürworter wie Fraktionssprecher Joseph Fischer behandelten einander wie ein rohes Ei das andere. Nur kein Streit, lautet die Devise der Stunde. Und daß so ganz nebenbei ein weiterer Schritt deutscher Großmachtpolitik mit Zustimmung der Grünen unternommen wurde, auch das gehört mittlerweile zum Programm.