Zwischen Charakter und Erfahrung

Richard Sennett seziert den "flexiblen Kapitalismus" und fordert moralische Mindeststandards

Zweifellos ist Richard Sennett einer der interessantesten Theoretiker der Stadtkultur, der Architektur und allgemeiner: der westlichen Zivilisation. In seinen weit ausholenden und dennoch pointierten Arbeiten zum "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens" und der narzißtischen "Tyrannei der Intimität", in seinen Studien zur Erfahrung des Sehens und des Körpers in der Stadtkultur ("Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation") und in seiner Machttheorie ("Autorität") bearbeitet Sennett, Kultursoziologe an der New York University, seit Jahrzehnten die Probleme der Herrschaft durch Architektur, die Vereinzelung und Machtlosigkeit der Individuen, deren Rückzug in die Privatheit und das Verschwinden des öffentlichen Raumes, der für die Erfahrung von Gesellschaft und wirklicher Individualität notwendig ist.

Sennett diagnostizierte in seiner Kritik der "intimen Gesellschaft", der Narzißmus sei die "protestantische Ethik von heute". Die calvinistisch inspirierte protestantische Ethik des 18. Jahrhunderts, die von Max Weber in seiner Großen Erzählung zur geistigen Geburtshelferin des Kapitalismus ausgedeutet wurde, zeichnet sich durch behauptete innerweltliche Askese zum Zwecke der Aufwertung und Bestätigung des Selbst und gleichzeitig zum Zwecke der Kapitalakkumulation aus. Der grassierende Narzißmus der siebziger Jahre sei die Wiederkehr dieser Ethik: "Weil man unbefriedigt ist, konzentriert man seine ganze Energie auf das eigene Selbst." Die eigenen Handlungen werden unwichtig, die Umwelt und die Kommunikation mit ihr wird bedeutungslos - "das Selbst wurde zum Grundprinzip der Gesellschaft". Entpolitisierung, Individualisierung und der Verlust wirklicher Erfahrung und des Sinnes für die Gesellschaft seien unweigerlich die Folge.

In seinem neuen Essay "Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus" interessiert ihn eine ähnliche Frage: Wie wirkt sich der neue neoliberale Kapitalismus auf die Individuen, deren Selbsterfahrung, deren Performanz und ihre Handlungen aus? Sennett analysiert die neue Kultur als Machtsystem: "Im heutigen Gebrauch des Wortes Flexibilität verbirgt sich ein Machtsystem. Es besteht aus drei Elementen: dem diskontinuierlichen Umbau von Institutionen, der flexiblen Spezialisierung der Produktion und der Konzentration der Macht ohne Zentralisierung." Diese drei Elemente der Transformation werden kunstvoll mit den lebensgeschichtlichen Erfahrungen einzelner Menschen verbunden, die diesen Prozeß reflektieren und als Träger der "neuen Kultur" gelten können - vom Brötchenbäcker bis zum Prototyp des neuen Kapitalisten, Bill Gates.

Die Erfahrung des eigenen Lebens war noch Anfang der siebziger Jahre von lebenslanger Berufstätigkeit einerseits und privatem Leben andererseits bestimmt: zwei Identitäten wurden gelebt, beide verwiesen aufeinander und ergänzten sich, beide Arten der Lebensweise beinhalteten die Möglichkeit der Anerkennung durch sich selbst und durch andere. Dies hat sich nun nach Sennett grundlegend geändert: "Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten?" Der moderne Kapitalismus bedrohe jene Charaktereigenschaften, die Menschen aneinander binden und dem einzelnen ein stabiles Selbstwertgefühl vermitteln. Die neuen Formen der Zeit-, besonders der Arbeitszeitorganisation schlagen auf die Psychostruktur der Beschäftigten durch: "Nichts Langfristiges" kann als Motto der neuen Arbeitswelt gelten. "Stellen" werden durch "Projekte" und "Arbeitsfelder" ersetzt, Zeitarbeit und Leiharbeit sind die am schnellsten wachsenden Beschäftigungsbereiche.

Das neue Regime der kurzfristigen Zeit schmiegt sich an das Börsengeschehen an, wo in immer kürzeren Zeitspannen Aktien wieder abgestoßen werden und sich Investition und Spekulation in immer kürzeren Zeitspannen rentieren sollen. Die Unternehmensstruktur wandelt sich: Bürokratien werden abgebaut, flache und flexiblere Organisationsstrukturen werden aufgebaut, Netzwerke lösen hierarchische Strukturen ab. Die sozialen Beziehungen der Beschäftigten werden dadurch geschwächt; schwache Bindungen und Zielorientiertheit lösen langfristige Bindungen ab.

Dennoch existiert die alte Trennung zwischen pivatem und öffentlichem Leben weiter. Die unterschiedlichen Anforderungen beider Sphären führen zu einer Art sozialer Schizophrenie: ein radikalisierter Kulturkonservatismus mit festen Werten bildet eine Art "Testament der Kohärenz" für das eigene private Leben, das ansonsten seiner Biographie, seiner Vergangenheit beraubt und nur noch auf die unmittelbare Verwertung in der Gegenwart hin orientiert ist. Die narzißtische Persönlichkeitsstruktur, die sich durch diese Prozesse bildet, deutet selbst Entlassungen als persönliche Entscheidungen um: Man sagt nicht mehr "ich wurde entlassen", sondern "ich mußte eine Entscheidung treffen". Unternehmensstrategien, die zu der Entlassung führen, werden von den Entlassenen unisono mit den Managern als unausweichlich dargestellt, die Opfer glauben, selbst für ihre Situation verantwortlich zu sein. Der Narziß kann nicht zugeben, daß er sich für seine eigene Situation nicht verantwortlich fühlen müsse - sagt man ihm das, so fühlt er sich beleidigt, weil das bedeutete, daß es auf ihn gar nicht ankommt.

Der "flexible Kapitalismus" verändert die Bedeutung der Arbeit selbst. Die Kapitalisten beherrschen, schreibt Sennett, nicht nur die Maschinen, sondern analog der Zunahme der Bedeutung der Dienstleistungen, der Technik und der Kommunikation auch diese Sphären. Der Schimäre der Freiheit durch neue Arbeitstechnologien setzt Sennett entgegen, daß diese von verstärkten Kontrollen begleitet werden. Der scheinbar unbeaufsichtigte Tele-Heimarbeiter wird effektiver kontrolliert als der Büroangestellte. Die Konzentration der Macht ohne ihre Zentralisierung bedeutet zwar "flachere Hierarchien", aber trotzdem alles andere als dezentralisierte Verfahren: "Die Inseln der Arbeit liegen vor einem Festland der Macht."

Die Zerstörung langfristiger sozialer Beziehungen zerstört auch den Charakter: "Die Bedingungen der Zeit im neuen Kapitalismus haben einen Konflikt zwischen Charakter und Erfahrung geschaffen. Die Erfahrung einer zusammenhanglosen Zeit bedroht die Fähigkeit der Menschen, ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen." Die Zerstörung der Langfristigkeit desorientiert das Handeln und die Selbstachtung. An ihre Stelle tritt "die Angst, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren". Mobilität wird deshalb zum Selbstzweck: "Wer sich nicht bewegt, ist draußen." Die Furcht davor, nichts zu tun, erscheint in einer dynamischen Gesellschaft als der Tod. Was man tut, wird dagegen sekundär. Die Ideologie des lebenslangen Lernens verdeckt, daß für die meisten Jobs kein Wissen mehr nötig ist - Symbole auf Windows-Fenstern zu verstehen, ist in der automatisierten Produktion und Dienstleistung häufig das einzige Wissen, das gebraucht wird. Aber je standardisierter die Tätigkeiten sind, umso individueller werden sie erfahren. Die Arbeiten sind gleichzeitig klarer und vollkommen unverständlich - sie werden ausgeführt, aber was getan wird, wird nicht mehr erfahren. "Zu leben, statt einfach nur zu existieren" - das gelingt den modernen Marktteilnehmern immer seltener. Das eigene Leben fällt auseinander, verschleißt sich in Einzelprojekten. Die driftende, erratische Lebenserfahrung, das ziellose Dahintreiben auf den Wellen der Ökonomie entbehrt der Beherrschung der eigenen Lebensereignisse. Die Individuen orientieren sich am Markt und kommen so zu einer Umstrukturierung ihrer Psyche, die Adorno einmal etwas altertümlich als "höhere organische Zusammensetzung der Seele" analog derer des Kapitals bezeichnet hat.

Soweit die durchaus treffende Diagnose über den Wandel des Arbeits- und Zeitregimes im neuen Kapitalismus. Statt aber den Zusammenhang der einzelnen Transformationsprozesse zu analysieren, ist es Sennett eher an "praktischen Vorschlägen" zum Umgang mit den Problemen des neuen Kapitalismus gelegen. Öffentlicher Druck auf die transnationalen Unternehmen soll moralische und soziale Mindeststandards sichern. Sennett will durch politischen und moralischen Druck die "Unternehmen zu besseren Bürgern" machen.

Ein Gemeinschaftsdenker vom Schlage der Kommunitaristen ist er aber nicht, er setzt eher auf Konflikt als auf Konsens, denn soziale Bindungen entstünden weit eher durch ausgetragene Konflikte denn durch angebliche gemeinsame Werte oder gar durch Nationalismus erzeugte Harmonie. Die nationale Gemeinschaft ist, wie das Kapital und die Arbeit, kein Mittel mehr gegen die "Drift". Postmoderne Auffassungen des Ich, die statt Werten und Konsens den Bruch und den Konflikt betonen, "aber nicht die Kommunikation zwischen den fragmentierten Teilen des Ich" bestreiten, könnten zu einer Stärkung neuer Identitäten und sozialer Beziehungen beitragen, hofft Sennett.

Es bleibt beim Hoffen, denn einen Ort angeben, an dem die zerfallenden marktangepaßten Identitäten der Individuen über soziale Konflikte, Kämpfe und bewußte politische Entscheidungen sich über die individuelle Ebene hinaus rationalisieren ließen, kann auch Sennett nicht.

Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin 1998, 224 Seiten, DM 38