Schulzerealismus

Wurde mit dem Buch "Simple Storys" die Literatur neu erfunden?

Mag sein, daß der gesamtdeutsche Roman jetzt da ist, mag ja sein. Wäre es so, der Roman könnte das wenigste dafür.

Mag sein, daß die Literaturkritik in der Einhelligkeit ihres sachbezogenen Urteils dieses Mal obendrein recht behält. Das Aufatmen und Aufseufzen, jene unüberhörbare und schon allzu laute Erleichterung darüber, daß Ingo Schulze, der vor drei Jahren mit den "33 Augenblicken des Glücks" fulminant und furios debütierte, nun und endlich wenigstens eines knappe Dekade zu spät den Einheitsroman vorgelegt hat, sei den Kulturbetriebsverwaltern neidlos gegönnt; und richtig liegen sie, wie gesagt, und es ist obendrein das Schönste an dem ganzen Geschnatter, bei ziemlich exakt 98prozentiger Wahrscheinlichkeit auch noch. Fabelhaft.

"Es geht also doch", stöhnte Ulrich Greiner in die strahlende Runde, es sei vollbracht, welch Glück und des Himmels unerwartetes Geschenk. "Menschen wie Tauben im Gras" - soviel überschriftliche Poesie gönnt sich die Literaturabteilung der Zeit selten; denn Schulzes "Allerweltsrealismus" "leuchtet wie der Sonnenuntergang überm Baumarkt." Der Redakteur, er kräht recht froh und unverblümt.

Aufgefallen ist den wenigsten, daß des Deutschlandromans größter Förderer und Propagandist und dessen Posaunenrufe nach der Totalität heischenden Gesamtschilderung und komplementär komplexen Protagonisten plötzlich obsolet scheinen. Schulzes "Simple Storys" geben ungefähr genau das Gegenteil dessen ab, was Reich-Ranicki und sein Rabauken-Rattenschwanz an Kollegen immerzu postulierten: Die Welt, welche der Roman erschafft, rundet sich heute nicht mehr zum Panorama der Gegenwartsgesellschaft. Jeglicher Kitt fehlt, kein Kunstkniff suggeriert Zusammenhalt, Pointen, Reprisen, die motivische Durchführung meidet Schulze konsequent.

"Von Literatur dürfen wir mehr verlangen als bloße Widerspiegelung", paukte Ulrich Greiner seinen Anti-Luk‡cs herunter, als hätte "Widerspiegelung" je anderes bedeutet denn Beobachtung, Wahrnehmung und die emphatische Konstruktion von Wirklichkeit. "Weil er das 'Ensemble der menschlichen Verhältnissse' darstellt (und jedenfalls in diesem Punkt dem guten alten Marx folgt), weil er in 29 Geschichten 29 Personen auftreten läßt, aber keineswegs der Reihe nach, sondern in einem sehr gekonnten Rhythmus wechselnder Perspektiven, neuer Gruppierungen, so daß wir denselben Menschen unter einem anderen Blickwinkel und in einer andern Situation mehrfach begegnen" - fand eine literarische Revolution statt, die Restitution des Erzählens in der, und die Journalelite folgte geschlossen brav dem Klappenext, eher älteren US-amerikanischen Tradition Raymond Carvers und Sherwood Andersons.

Passiert ist nicht mehr, als daß Schulze ein bisweilen tatsächlich perückend gutes Buch geschrieben hat. Das reicht hierzulande für mittlere Erdbeben und Begeisterungsstürme. Der Superlativ erfreut sich starker Konjunktur. Wann darf die Kritik schon aus vollem Hals loben? Sie leidet ja gewöhnlich stark.

Schulze, schließt Greiner, lehre den Leser, "dieses seltsame, unbegriffene und ziemlich deutsche Deutschland ist trostloser und auch schöner, grauer und auch spannender, als er dachte." Ergo ein rechtes Allerlei. Von mir aus.

So ganz begreift man die Aufregung eigentlich nicht. "Ingo Schulze", erläuterte wiederum der Spiegel, "hat den langersehnten Roman über das vereinte Deutschland geschrieben" - einen "Reigen", der laut Zeit allerdings "ein eher trauriger Reigen - und kein erotischer Reigen wie bei Schnitzler" sein müßte. Sie werden sich noch einigen.

Ich plädiere eher auf "Panoptikum" (Spiegel) bzw., wenn wir's ganz genau nehmen, ein sog. "Reihung" verschiedener Zustände und "Situationen" (Zeit), in denen etwas passiert, das erzählt wird. So geht Literatur ja meistens. Mit Bernd Eilert zu reden: "Es ist überhaupt ziemlich schwierig, beim Schreiben etwas anderes zu produzieren als Literatur."

"Warum ich das erzähle?" läßt Schulze zum Ende seiner ersten Geschichte Renate Meurer fragen. "Weil man so schnell vergißt." Nicht soll vergessen sein, wie Angehörige unterschiedlicher Klassen mit unterschiedlichem Einkommen und unterschiedlichem Bildungsstand 1990 ff. praktisch unterschiedliche Wege zu gehen begannen. Die eine wird Redakteurin, der andere bleibt Präparator, und alle zusammen wursteln in gegeneinander abgedichteten Spezialwelten mehr recht als schlecht vor sich hin. Schulze reduziert Stoffe auf Begebenheiten, kleine, fast winzige Katastrophen und unscheinbare Vorgänge. Die Sensationen des Lebens birgt der Alltag, und dessen Romanhaftigkeit stellt Schulze nicht als erster unter Beweis.

Wie zu hören, widersetzt sich der jüngste Shootingstar des öddrögen Betriebs jeder denkbaren Deutung seiner "Simplen Storys". Die Zurückweisung der Interpretation und der eitlen Rauner gehört zur Übung. Für Schulze nimmt ein, daß er allen Grund hat, die Haltung des Unberührbaren zu kultivieren. Er kann schreiben. Und wer glaubt, man müsse dem Leser erklären, was er da lese, traut dem eigenen Hymnus nicht.

"Vielleicht würde er sogar mal jemanden grüßen", lautet einer der vielen gelungenen Sätze dieses schönen und wahrscheinlich wahren Buches. Die Leut' haben Sorgen, schmieden Pläne, fahren auf Partys und versuchen sich über Wasser zu halten. Daß Schulzes "Polyphonie der Lakonie" (J. Roth) dem Personal dennoch eigentümlich uniforme Stimmen leiht, muß kein Fehler sein, wo genug getan ist, wenn einer Rhythmusgefühl besitzt, Verben zu wählen versteht und weiß, wann er Dinge beschreiben will.

Womöglich wird man in zehn Jahren die "Simplen Storys" nochmal angehen und zur Kenntnis nehmen, mit welcher Eleganz Schulze Gebrauchstexte und höhere Töne imitiert und kombiniert. Man wird aber auch sehen, daß er die Literatur weder neu erfunden hat noch derartige Absichten verfolgte. Vorerst genügt, die Geschichte eines dunkelhäutigen Akademikers zu lesen, den ein Fahrgast niederstach und er nach längerem Krankenhausaufenthalt um seine Wiedereinstellung als Taxifahrer ersucht, durch seinen Chef aber der ökonomischen Zwangslage wegen eine Abfuhr erhält.

Und was, um hier mal die scharfe Linkskurve zu kriegen, macht eigentlich z.Zt. unser aller vorletzter Liebling Durs Grünbein? Unverdrossen deutsche Gegenwartsliteratur schnitzen?

Ingo Schulze: Simple Storys - Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin Verlag, Berlin 1998, 303 S., DM 38