Versorgung im Minutentakt

Unter Protesten der Betroffenenverbände versuchen Sozialverwaltungen, Behinderte in die Pflegeversicherung abzuschieben - das Beispiel Hamburg

"Die Struktur der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Hamburg soll auf hohem Niveau weiterentwickelt werden." Dieser pathetisch-unbeholfene Satz aus dem rot-grünen Koalitionsvertrag verspricht rosige Aussichten für die Behinderten: Was gut ist, soll noch besser werden. Trotzdem attackieren derzeit ausgerechnet Behindertenverbände die rot-grüne Regierung heftig.

"Experimente auf Kosten schwerstbehinderter Menschen" sehen sie in den Plänen des Senats, Teile der Behinderteneinrichtungen der Pflegeversicherung zuzuschieben. Kritik kommt jedoch selbst aus den eigenen Reihen. So hat sich die Senatsbeauftragte für Behindertenfragen, Elke Fank, dem Initiativkreis Eingliederungshilfe, angeschlossen, der dieses Projekt abwehren will.

Nach Ansicht von VertreterInnen der Behindertenbewegung enthält die Koalitionsvereinbarung erhebliche Nachteile für Behinderte. Wenige Sätze nach dem vollmundigen Eingangssatz nämlich wird der gemeinsame Wille formuliert, sich dafür einzusetzen, innerhalb der Behinderteneinrichtungen "eine wirtschaftlich getrennte Pflegeabteilung zu schaffen" - für die dann die Pflegekassen zu zahlen hätten. Die Idee ist so neu nicht: Bundesweit gibt es bei den Sozialverwaltungen den Trend, Kosten für die Unterbringung und Versorgung von pflegebedürftigen Behinderten auf die neue Versicherung abzuwälzen. Allen voran schreiten die Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg. Sie sind schon seit längerem zu dieser Praxis übergegangen.

"Diese Entwicklung beobachten wir mit der allergrößten Sorge", kritisiert Rolf Hendricks, Vorsitzender der Lebenshilfe Hamburg. Er befürchtet, daß der erst vor wenigen Jahren im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verankerte individuelle Rechtsanspruch auf "Eingliederungshilfe" nunmehr "durch die kalte Küche rückgängig gemacht" werde. Hinter der fürchterlichen sozialpädagogischen Formel "Eingliederungshilfe" verbirgt sich die Zielsetzung, Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Nach diesem Konzept, so definiert Hendricks, "wird man nicht gewaschen und gewindelt, damit man satt und sauber ist". Vielmehr seien diese Maßnahmen nur Mittel zum Zweck, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Pflegeversicherung mit ihrem ausschließlich medizinischen Ansatz, in der die notdürftigen Leistungen in mathematische "Module" zerlegt werden, sei somit für Behinderte eine völlig ungeeignete Struktur.

Deren Aufgaben beschränken sich weitgehend auf die Aufrechterhaltung der biologischen Lebensfunktionen. Die in der Pflegeversicherung vorgesehene sogenannte "aktivierende Pflege", die im Minutentakt gemessen wird, betrachtet Hendricks als "Witz". Weder kennt die Pflegeversicherung "Assistenzmodelle", in denen sich Betreuerinnen an den Bedürfnissen ihrer Klientinnen orientieren sollen, noch dürfen Pflegebedürftige, die einer Pflegestufe eingeteilt werden, frei entscheiden, in welcher Einrichtung sie leben wollen.

Georg Wiese, Referent im Hamburger Landesamt für Rehabilitation, kann die Aufregung der Behinderten nicht nachvollziehen. "Es geht ein Aufschrei durch die Behindertenbewegung", räumt er ein, aber man solle es doch einmal positiv sehen. Schließlich gehe es bei den Plänen, gesonderte Pflegeabteilungen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zu installieren, auch darum, die Ansprüche der Betroffenen gegenüber der Pflegeversicherung wahrzunehmen - eine Aufgabe, um die sich die Trägervereine nicht kümmerten. Verwaltungen, Betroffene und Träger säßen doch alle in einem Boot.

Für Wiese ist nicht einzusehen, warum die Quelle "Pflegeversicherung" nicht angezapft werden sollte. Außerdem sei gar nicht daran gedacht, in den einzurichtenden Pflegeabteilungen für schwerpflegebedürftige und alte Behinderte keine "Eingliederungshilfe" mehr zu gewähren. Der Umfang müsse im Dialog entschieden werden. Doch solche Maßnahmen seien nur noch "Kann"-Bestimmungen, auf die es keinen Rechtsanspruch gebe.

"Ein Sahnehäubchen", beurteilt Hendricks diese Möglichkeit, die allerdings jederzeit Einsparungen zum Opfer fallen kann. Auch wenn es um "Sparzwänge" geht, bevorzugt Georg Wiese als Vertreter der von Sparquoten gebeutelten Fachbehörde die optimistischere Betrachtungsweise. "Es gab Zeiten, da war viel Geld da, und da wurden Dinge aus dem Boden gestampft." Jetzt, wo die Kassen leer seien, ergebe sich die Chance zu einer "kritischen Bestandsaufnahme".

Solche Perspektiven sind freilich wenig geeignet, der Skepsis der Behinderten-Lobby gegenüber den Pflegeabteilungen entgegenzutreten. Sie befürchten, daß die Orientierung auf Selbstbestimmung, welche die Behindertenbewegung seit den siebziger Jahren durchgesetzt hat, nun der Wirtschaftskrise zum Opfer fällt. Sich auf den Rechtsanspruch auf "Eingliederungshilfe" des Sozialhilfegesetzes zu verlassen, wäre allerdings ein Fehler. Denn dort ist über den Umfang der "Hilfe" nichts ausgesagt. So kann es schnell passieren, daß auch die Kriterien, nach denen ein menschenwürdiges Leben für Behinderte definiert und festgelegt wird, welche Kosten sie dabei verursachen dürfen, angesichts leerer Kassen wieder zur Disposition stehen.