Ihr sollt keine Platzangst haben!

Goetz, der Spirit der Love Parade und die Unschuld der Masse
Rainald Goetz ist der Typ von Philosoph, der sich dauernd selbst auf die Schultern klettert und dann behauptet: Ich sehe was, was du nicht siehst. Zum Beispiel die Love Parade. Die Sonne. Die Mädchen.

Letztes Jahr im Sommer veröffentlichte er dazu im ZEITmagazin einen emphatischen Text, der nicht vom Ereignis Love Parade (worüber alle anderen schon geschrieben hatten), sondern vom Erlebnis Love Parade handelte, und von Sonne und Mädchen natürlich. Daß der Autor über das Glück, Teil der Masse zu sein, von einem dieser albernen exponierten Umzugswagen herab berichtete, also weder eingekeilt im Gedränge auf dem Kudamm rumstehen noch an der Peripherie zwischen Müllcontainern und Toilettenhäuschen vergammeln mußte, widersprach zwar genaugenommen seiner strikt anti-elitaristischen Position, fiel aber auch nicht weiter auf.

Unausgesprochen war der ganz aufs eigene highe Feeling konzentrierte Bericht aus dem Zentrum des Geschehens auch eine Antwort auf eine in der Berliner Zeitung erschienene stocknüchterne Groß-Reflexion von Gustav Seibt, für die Elias Canetti, Ortega y Gasset und alle Kulturanalysten aufgeboten wurden, die helfen konnten, das jugendkulturelle Massenphänomen mit ganz spitzen Fingern irgendwie in den Griff zu bekommen.

Sympathisch wirkte Goetz' enthusiasmierte Reportage, weil die schon wochenlang vor der Love Parade geführte Debatte um Rave und Drogen / Umwelt / Lärm bereits deutliche Züge des Berliner Spießertums angenommen hatte und auf denselben Mustern beruhte, mit denen die noch aus Mauerzeiten in xenophober Paranoia geschulte Hauptstadt prinzipiell auf Leute reagiert, die kommen, um hier zu leben oder die einfach mal Guten Tag sagen wollen. Also wurden jene Metaphern reaktiviert, die sonst dazu dienen, Migration zu bebildern (Ströme, Fluten etc.); auch, weil jenseits von "Willkommen in X" aus der Fremdenverkehrswerbung und Soliadressen von bestimmten Gruppen an bestimmte Gruppen gar keine Sprache zur Verfügung steht, die nicht xenophob besetzt ist und den Horror vor der Masse reproduziert. Goetz' Schwärmerei wirkte als Gegengift in einer leicht verbiesterten Diskussion.

Provozierte versuchsweise aber gleich die nächste - über die Unschuld der Masse. "Rave", Rainald Goetz' Buch mit "Geschichten aus dem Inneren der Nacht", worin er zögerlich seinen Abschied von der Club-Szene vorbereitet, setzt erneut an diesem Punkt an.

Wie spricht "Rave"?

"Ich habe vergessen, wie man geht / how to walk and speak / and I am toward / flying into the air / raving."

"Ich ging hin und tanzte mit. Das Gefühl war toll. Ich verstand geheime Sachen über Frauen, die die eine der beiden Tänzerinnen mir durch ihre Bewegungen gespielt erklärte. Wir schauten uns in die Augen und lachten. Sie trug ein kleines Fellchen und wir tanzten näher miteinander. Das war auch ganz leicht. Manchmal berührten wir uns an den Händen."

Selten ist Sex undämonischer beschrieben und so konsequent den Lichtseiten des Lebens zugeschlagen worden wie hier. Merkwürdig, daß zwei Rezensenten, von der Berliner Zeitung und vom Spiegel, sich ausgerechnet von den yogisch Sexszenen - Stichwort Theweleit: "Körperpanzer" - an den Fascho-Literaten Jünger erinnert fühlten. Den Goetz allerdings auch extensiv gelesen hat und von dessen "metaphysischem Gerümpel" (Bourdieu über Jüngers Literatur) er einiges weiterschleppt, zum Beispiel ins Kapitel "BEKIFFT, BETRUNKEN UND NACKT ZUM SEX GEZWUNGEN", worin es allerdings ausschließlich um das "Manöver" des DJ geht, um den "Moment der Krise und der Rettung", wenn der die Platte wechselt. Der verspielte und banale Teenagersex wie überhaupt die gesamte Figurenkonstellation zwischen Anki, Susi, Pia, Wolli, Sigi, Tobi, Mark, Rainald, Wirr und Dark haben aber mehr mit dem Bravo-Fotoroman gemein als mit den Brunftszenen bei Ernst Jünger.

"Wieviel Kitsch macht gute Laune? Wann wirds pappig, klebrig, penetrant?" fragt Goetz, als im Hintergrund das Weiße Album von The Orb läuft.

Nein, der unaggressive, freundlich-gurrende Sound von "Rave" ist weder pappig noch penetrant, und ist es bis zum Schluß nicht, sondern ist im Gegenteil ziemlich angenehm. Nur manchmal, wenn der entspannte Tonfall kurz mal das schlauistische Bindestrich-Milieu von Spex streift, um sich dann in den Diminutiv-Zonen von Super! auszutoben - was immer dann geschieht, wenn Frauen auftauchen -, wird der Raver-Jargon ("'Hallo Steffi, süßes kleines Bärchen, stell uns doch mal deine niedlichen Freundinnen vor'") schleimig.

Das Hallo-Prinzip: Jeder kennt und berührt jeden flüchtig. Nur für wenige Momente ist der Erzähler mal allein, einmal kurz, wenn er sich kotzend in einem Straßengraben in Berlin-Mitte wiederfindet, das andere Mal, als er sich in der Badewanne seiner Münchner Wohnung zu entspannen versucht. Goetz, seine Freunde und Freundinnen wecheln die Orte - München: P1. Berlin: Tresor. Köln: PopKomm -, nicht die Szene. Überall sieht man dieselben Leute, DJs, Dealer und Journalisten, die, die man schon kennt, oder die, die man fragt: Warum haben wir uns eigentlich noch nicht kennengelernt?

Sie sind immer absolut freundlich, Goetz und die Raver, und schon dies sowie die Infantilität der Kommunikation könnte reichen, um sich von diesem Buch genervt zu fühlen. Aber nicht der nette Ton stört, sondern die kindhafte Freundlichkeit eines Erzählers, der darin eine Verabreichungsform seines Antiintellektualismus gefunden hat, den er zumeist in homöopathischen Dosen gegen die versprüht, denen die Erleuchtungsstrategien des Ravers schnuppe sind. An sich ist die Intellektuellen-Beschimpfung eine ziemlich witzige Angelegenheit, und wenn Studenten und Akademiker vom Türsteher abgewiesen werden, auch keine Katastrophe.

Auch nicht, wenn es Seibt trifft, der in diesem Buch eine Doppelexistenz als Journalist (korrekt mit "v" im Gustav) und als Junker (mit "f" im Vornamen) führen muß. Ein Sommernachmittag im Englischen Garten. Kifferglück. Der Erzähler ruht auf dem Oberschenkel irgendeiner Susi. "Es ist dies auch der Nachmittag und etwa die nämliche Stunde, in der der junge Mann in weißen und naturweißen Freizeitkleidern, der junge Landadelige Gustaf Seibt, in seiner Berliner Stadtwohnung in der Kameruner Straße das Gewehr mit Zielfernrohr von der Gardinenstange nimmt, hinaustritt auf den Balkon, und von dort, vom vierten Stock aus, auf die unter ihm in Massen ihre sonntäglichen Spiele veranstaltenden nicht-ausländischen und ausländischen Kinder anlegt und sie erschießt, bis alle tot sind."

Isoliert betrachtet oder auch vor dem Hintergrund divergierender Positionen zur Love Parade zwischen beiden Autoren - nach dem Motto: Rache für letzten Sommer - ist diese Szene witzig. Im Kontext des Buches weniger. Goetz knöpft sich einen Exponenten der Hochkultur vor, beruft sich auf die humanistisch-universalistischen Reste der Massenkultur und destilliert so etwas wie die politische Botschaft von Rave: Ihr sollt keine Platzangst haben!

Weil die Massen schon okay sind.

Liegen die Dinge so einfach? Bei Goetz ist es sogar noch simpler; mit derselben Leichtigkeit, mit der Intellektuelle ruckzuck faschisiert werden, wird die Masse entfaschisiert, und zwar rückwirkend. An einer Stelle bekennt der Autor zwar, er habe sich von den "DOITSCHLAND"-Rufen in der Nachwendezeit irgendwie belästigt gefühlt, aber mit solchen symbolpolitischen Kinkerlitzchen muß einer sich nicht eigens beschäftigen, der prinzipiell auf die zivilisierenden Effekte der Masse vertrauen kann, weil er erkannt haben will, daß eine Masse, also "SEHR viele Menschen", noch nie ein "Verbrechen verübt" hat und vulgär-positivistisch nur das gelten läßt, was er sieht, fühlt etc. Als Faschismustheoretiker ist Goetz eine Null. Aber der Sound ist okay.

Rainald Goetz: Rave. Suhrkamp, Frankfurt/ Main, 271 S., DM 38