Was tun am 1. Mai?

Auf den "Revolutionären 1. Mai-Demonstrationen" kann die Linke eigene Akzente setzen, statt immer nur den Nazis hinterherzureisen.

Vor zehn Jahren war der Revolutionäre 1. Mai in Kreuzberg ein besonderes Event für die Linke weit über Berlin hinaus. Die Szenetreffs waren schon Nächte vorher ebenso überfüllt wie die Polit-WGs der Stadt. Über Ideologisches wurde höchstens im Vorbereitungskreis gestritten. Für die DemoteilnehmerInnen stand Widerstand und Action im Vordergrund.

Auch die andere Seite bereitete sich schon Wochen vorher auf die Maifestspiele vor. Da konnte man auswärtige Polizisten beobachten, wie sie mit dem Stadtplan in der Hand das Kreuzberger Kampfterrain inspizierten. Die Boulevardzeitungen im damaligen Westberlin überboten sich im Vorfeld mit düsteren Prophezeiungen über die bevorstehenden Zerstörungen. Das war zwar maßlos übertrieben, aber dennoch gab es am 1. Mai genügend Action, um auch noch in der ersten Maihälfte in den Schlagzeilen zu bleiben. Genau so regelmäßig wie der 1. Mai kam die parteipolitische Manöverkritik am Tag danach. Die CDU rief nach mehr Polizei und schärferen Gesetzen, die SPD forderte das gleiche und dazu noch soziale Extras für Kreuzberg / SO36, und die Alternative Liste distanzierte sich von Gewalt auf beiden Seiten und forderte mehr Kiezbegrünung. Die ProtagonistInnen der Maifestspiele aber zogen sich bis zum nächsten 1. Mai in ihre WGs oder Provinzen zurück, während ein kleiner Rest die Gefangenen betreute oder sich um den unspektakulären Politkram bemühte.

Doch seit Anfang der neunziger Jahre ist der Revolutionäre 1. Mai mehr und mehr Gegenstand eines ideologischen Schlagabtauschs zwischen kommunistischen und undogmatischen Linken, der bisweilen auch auf der Demo handfest ausgetragen wurde. Als 1993 sogar die Polizei für das Einkesseln des maoistischen Blocks Szenenapplaus erhielt, schien der Revolutionäre 1. Mai am Ende. 1994 und 1995 boykottierten viele autonome Gruppierungen die Maifestspiele und bereiten den Autonomiekongreß vor, der Ostern 1995 in der TU-Berlin stattfand.

Unbekümmert von Szene-Sinnkrisen haben indessen neue Gruppierungen wie die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) die Organisierung der Mai-Aktivitäten übernommen. Seit 1996 gibt es sogar die Wahlmöglichkeit zwischen zwei Demos: Eine startet traditionell am Oranienplatz in Kreuzberg, die andere im Osten am Rosa-Luxemburg-Platz. Vor dem 1. Mai 1998 wird dennoch massiver als je der Sinn der Demo in Frage gestellt. Noch immer sucht die Szene nach den fehlenden Inhalten. Die konnte der Autonomiekongreß nicht finden, und auch das "Wochenende gegen die Leere", zu dem autonome Gruppen Ende März aufgerufen hatten, brachte keine Resultate. Denn wie vor drei Jahren scheint noch immer die Vorstellung vorherrschend, neue Ideen könnten auf Versammlungen der autonomen Szene zu finden sein, wo die Leute sich stundenlang darüber austauschen, wie befreiend es doch ist, die Musik- und Modebedürfnisse individuell und nicht wie vor zehn Jahren nur "szenekorrekt" gestalten zu können. Zu gesellschaftlichen Bewegungen aber, die es außerhalb des autonomen Lagers gibt, bleibt man weiterhin auf Distanz. So wurde gleich gar nicht versucht, mit jenen Studierenden und Arbeitslosen in Kontakt zu kommen, deren Perspektive weder ein Eintritt in die FDP noch Bittgänge vor die Arbeitsämter ist.

Die 1. Mai-Demos könnten diesen Initiativen eine Plattform für ihre Forderungen bieten. So wäre die auf dem Perspektiv-Wochenende vielbemühte Frage nach der Politikfähigkeit der Autonomen zu beantworten. Schließlich könnten die Aktionen mit ihren antirassistischen und antipatriarchalen Ansätzen verhindern, daß soziale Proteste in rassistische Ausgrenzung und nationale Standortlogik umkippen. Die Autonomen könnten so einen emanzipatorischen Pol schaffen, der den Versuchen der NPD und anderer Nazigruppierungen, die soziale Frage im völkischen Sinne zu beantworten, entgegentritt, was angesichts des NPD-Aufschwungs in Sachsen und ihrer geplanten Großdemo in Leipzig auch dringend geboten ist. Doch ein Verzicht auf eigene Aktionen zugunsten eines Aufspringens auf den Antifazug ist nicht die Lösung, wie der autonome Chronist Geronimo in seinem Buch "Glut und Asche" richtig bemerkt hat. Denn der Kampf gegen die erstarkenden Neonazis ist nicht bei deren Aufmärschen, die letztlich immer von der Polizeitaktik bestimmt sind, sondern auf dem gesellschaftlichen Terrain zu gewinnen.

Eine gut besuchte Revolutionäre 1. Mai-Demo mit klarer Positionierung gegen Nazis und staatliche Rechtsentwicklung wäre ein sinnvolleres antifaschistisches Signal als 1 000 Berliner Antifas im Polizeikessel in Leipzig (oder bereits auf den Zufahrtstraßen). Da bleibt nur Wut und Frust. Da ist es schon besser, auf einer 1. Mai-Demo mit Forderungen wie beispielsweise Nulltarif im Nahverkehr, Arbeitszeitverkürzung auf 20 Stunden bei vollem Lohnausgleich oder Abschaffung des Schulnotensystems in die Offensive zu gehen, und darüber mit den AkteurInnen aktueller Proteste in Diskussion zu treten. Davon können beide Seiten profitieren: Die frisch Politisierten lernen über den Rand ihrer jeweiligen Initiative hinauszublicken, und auch die alten Hasen bräuchten über einen Mangel an Ideen nicht mehr zu klagen.