32. Abstecher nach Tucson

Fortgesetzte Erzählungen

Es war heiß in Phoenix, etwa 40 Grad im Schatten. Er betrat eine Toilette, und sofort fegte ein Polarsturm über seinen schweißnassen Rücken, so daß er vor Kälte zitterte. Dann schwitzte er wieder.

In Tucson war es noch heißer. Fred Rosebud stand am Bahnhof und umarmte ihn. Er trug einen Texashut und war so groß und breit, als gehörte ihm die Southern Pacific. Ein Indianer warf den Koffer auf den Pick-up und sprang hinterher. Das war das angenehme Deutschland: Daß man als Jude den Weißen nicht das Gepäck zu tragen brauchte.

"Schön, daß du da bist", sagte Rosebud. "Hast du an die Stumpen gedacht?"

Max Klebe öffnete die Reisetasche, holte etwa zwei Kilo Burger Stumpen hervor und gab sie ihm. Die Fahrt führte durch eine karge Weidelandschaft, und an der Straße standen Schilder, auf denen riesige Kakteen in der Wüste standen. Sie sahen aus wie riesige Kleiderständer. Rosebud qualmte wie der letzte Zug nach Dunhill, trotz seiner 65 Jahre, und lobte das Kraut. Es stank entsetzlich und es erinnerte ihn an die alten Männer in seiner Jugend, die das Zeug in kurze Stücke schnitten und in versotteten kleinen Pfeifenköpfen rauchten.

Es gab viele Gründe für einen deutschstämmigen Rancher, gegen Fidel Castro zu sein, meinte Rosebud, und das Heimweh war nur einer davon. Manfred Rosenberger, der sich in den USA Fred Rosebud nannte, haßte Havannas und liebte Burger Stumpen zu zehn Pfennige das Stück, von denen Max Klebe ihm gelegentlich einen Posten schickte. Die beiden waren durch drei Kellerlöcher miteinander verwandt.

Rosebuds Familie hatte früher das Kaufhaus Rosenberger am Marktplatz von Hofacker gehört, das Fräulein Pfeufers Vater sich 1938 unter den Nagel gerissen hatte, und war gerade noch rechtzeitig ausgewandert. Zum Glück hatte sein Atelier gleich 1933 seine flüssigen Mittel nach drüben verschoben.

Das Hotel hieß "Geronimo's" und lag angeblich nicht weit von Rosebuds Rinderfarm. Es bestand aus einstöckigen Plattenbauten, zwischen denen etliche Wassersprayer eine Art von Vegetation am Leben zu halten versuchten. Hinter dem Tresen stand ein Mann, der aussah wie Colonel Custer vor dem Massaker am Little Big Horn River. Davor war Custer ein beliebter Indianerschlächter und danach war er tot.

Klebe stellte die Klimaanlage auf Tiefkühlkost, riß sich die Sachen vom Leib, duschte kalt und legte sich schlafen. Irgendwann hatte er einen Traum. Er lag wach auf einer Eisscholle, die auf die Niagarafälle zutrieb. Er erwachte und sah auf die Uhr. Es war fast sechs Uhr früh, und er fror entsetzlich.

Er wollte aufstehen und die Klimaanlage abstellen, aber er war stocksteif. Der Schmerz hatte sich längst von seinem Epizentrum zwischen dem untersten Lendenwirbel und dem obersten Steißbeinwirbel entfernt und beide Küsten unterhalb der Gürtellinie erreicht.

Nach etwa zehn Minuten war es ihm gelungen, sich auf den Bauch zu drehen und das linke Bein aus dem Bett hängen zu lassen. Er wußte noch nicht, wie er es schaffen würde, den senkrechten Abhang hinunterzukommen, aber darüber nachzudenken, war es noch zu früh.

Der Absturz kam urplötzlich und war unaufhaltsam. Der Schmerz war so heftig, daß er den Wunsch hatte, sich nie wieder zu bewegen. "So etwa muß es sein, wenn man geköpft wird", dachte er. "Ein Schmerz, der dem Tod seinen Schrecken nimmt."

Nach zehn Minuten hatte er, auf allen vieren kriechend, die Naßzelle erreicht und begann, sich am Closettbecken hochzuziehen. Es gelang ihm, sich so weit hochzustemmen, daß sein Schwanz auf dem Closettrand lag. Er entleerte laut stöhnend die Blase und ließ sich wieder auf die Knie sinken. Er brauchte jetzt erst mal eine längere Pause.

Es war halb sieben, als er endlich wieder das Bett und die einigermaßen schmerzfreie Rückenlage erreicht hatte. "Mein Gott", dachte er, "wenn mir das einer vorher gesagt hätte. Ausgerechnet in Arizona. Hätte ich nur auf Ida gehört, dann könnte ich mich wenigstens auf dem Ölberg begraben lassen."

Natürlich wußte er, warum er hier war. Er wollte Rosebud bitten, der Gemeinde Hofacker ein Stück Land zu verkaufen, auf dem man ein Sportlerheim mit Gaststätte errichten wollte. Er wollte mit ihm über die alten Zeiten plaudern und nebenher ganz unverfänglich fragen, was Fred über eine von Wespen zerfressene Leiche wußte, die man im Herbst 1933 in einer halbverfallenen Feldscheune am Rande des Ritterguts gefunden hatte. Er hatte damals selbst noch in Hofacker gewohnt, mußte die Sache aber irgendwie verpaßt haben. Außerdem war Fred 13 Jahre älter.

"Naja", dachte er, "dazu ist es jetzt auch zu spät."

Wie es Klebe schließlich gelang, seinen Onkel an die Strippe zu kriegen, ist eine lange Geschichte. "Ich kann jetzt nicht", sagte Rosebud und fluchte. "Die Cattle ist ausgerissen. Ich schicke dir unseren Medizinmann. Er hat magische Hände. Doch glaub' mir. Martha läßt sich auch immer von ihm die Hand auflegen, wenn sie ihre Gallenkoliken kriegt."

Der Medizinmann war ein Indianer. Er sah aus wie ein Reservoirhund, also schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Hut und schwarze Sonnenbrille. "Hoffentlich ist es kein Apache", dachte Klebe. "Ich bin Chi", sagte der rote Schwarze in einwandfreiem Deutsch, "mein Urgroßvater hat mit Geronimo in Fort Pickens gesessen. Na, was haben wir denn?"

Er zog die Jacke aus, ließ seine kräftigen Finger knacken und schob beide Hände unter Klebes Rücken. Dann, mit einer kurzen Armbewegung, schleuderte er ihn hoch. Klebe sah ein schlechtes Bild von Nay, hörte die Farben explodieren und schrie. Es war klar, daß Rosebud ihn foltern ließ, weil er den Mut besaß, in Hofacker zu leben.

"So ist das immer mit dem weißen Mann", sagte Chi vorwurfsvoll. "Erst ist er ganz stark, und wenn er auf dem Boden liegt, muß der rote Mann ihm wieder auf die Beine helfen. Ich war vier Jahre in Friedberg, Hessen. Ich weiß Bescheid."

Klebe lag jetzt wieder auf dem Bauch und lauschte den sich entfernenden Farben in seinem Rücken. Zum ersten Mal in seinem Leben tröstete es ihn nicht, daß jemand behauptete, es gebe an sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen Juden und Weißen.

Chi zog die Schuhe aus, nahm einen kurzen Anlauf und sprang ihm mit beiden Knien in den Rücken. Diesmal durchtobte eine Farborgie von Jackson Pollock Klebes Rücken, und es dauerte eine Weile, bis er Chi seine Abneigung gegen Naturheilverfahren und seine Liebe zur chemischen Medizin gestehen konnte.

Chi starrte ihn verständnislos an. "Warten Sie's ab, in einer Stunde sind Sie wieder gesund", sagte er. Klebe dachte daran, daß die Indianer ein anderes Verhältnis zum Schmerz haben als wir Europäer. "Bitte", sagte er, "ich will nicht gesund werden. Rufen Sie einfach meine Frau an und sagen Sie ihr, wo ich begraben liege."

Es war später Nachmittag, als Rosebud endlich kam, um ihn zum Barbecue abzuholen, und einen Arzt namens Crook mitbrachte, den er General nannte. Erfreut notierte Klebe, daß er weder schwarz noch rot, noch gelb war. General Krug gab ihm zwei Spritzen in den Rücken, die nach etwa einer halben Stunde wirkten. So lange unterhielten sich Rosenberger und der General darüber, ob der Vietnamkrieg auch so lange dauern würde wie der Koreakrieg und warum nicht alle Deutschen Nazis waren, aber Vietnamesen Kommunisten.

Sie stützten Klebe von beiden Seiten, als sie über die zersprungenen Steinplatten zwischen den Bungalows schritten und Colonel Custer schenkte ihm als Spazierstock einen alten Baseballschläger, den jemand liegen gelassen hatte. Es gibt jedenfalls ein Foto in Klebes Archiv, das darauf hindeutet.

Er steht auf einer Veranda zwischen den Rosebuds auf einen Baseballschläger gestützt und macht mit der Linken das V-Zeichen, während Rosebud dabei ist, einen Stumpen zu verschlucken. Martha Rosebud hat eine Klatsche in der Hand. Auf der Rückseite steht:

"Sahuarita 1966".

Nächste Woche: "Der Tausendfüßler"