Gyula öffnet sein Füllhorn

Wenige Tage vor den ungarischen Parlamentswahlen scheinen Gyula Horns Sozis als Sieger festzustehen

Einige der Zuhörer mußten sich in der falschen Veranstaltung wähnen. Vor knapp zwei Wochen schlug Ungarns sozialdemokratischer Premierminister Gyula Horn im Budapester Arbeiterbezirk Csepel eigene Töne an. Stolz erzählte der Regierungschef von den Lobeshymnen internationaler Konzerne und Banken für seine Politik des Sozialabbaus. Zur gleichen Zeit warf sich der Chef der FIDESZ (Bund Junger Demokraten), Viktor Orban, vor einem sehr distinguierten Publikum in der noblen Budapester Redoute in die Wahlschlacht - und warb für den Wohlfahrtsstaat. Beide Reden wurden von den jeweiligen Zuhörern mit tosendem Applaus quittiert.

Verkehrte Welt? Nein, Ungarn im Wahlfieber. Am 10. und 24. Mai werden die Ungarn ein neues Parlament und eine neue Regierung wählen. Glaubt man jedoch den Demoskopen, wird der alte Regierungschef auch der neue sein: Gyula Horn.

Seit der Sozialdemokrat 1994 die Macht von den Konservativen übernommen hat, befindet sich das Land auf dem Weg einer sanften, aber stetigen Besserung. Erstmals seit vier Jahren wächst die Wirtschaft wieder, für dieses Jahr wird von Experten ein erneutes Wachstum von vier bis 4,5 Prozent vorausgesagt. Diese relativ guten Daten werden im kollektiven Bewußtsein der Ungarn durch spektakuläre Ankündigungen des Premiers noch verstärkt. Anfang Februar stellte Horn im ungarischen Radio seinen älteren Landsleuten in Aussicht, daß künftig alle Pensionisten die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benutzen und die Europa-Flüge der heimischen Airline Malev in Anspruch nehmen könnten.

Die neue Reisefreiheit wurde daraufhin arg strapaziert. Tausende Anrufer legten die Telefonzentrale von Malev lahm und buchten sich fröhlich durch den ganzen Kontinent. Genervte Malev-Angestellte mußten dem unverhofften Jet-Set mühsam erklären, daß der Regierungschef mit seiner Ankündigung doch etwas zu voreilig gewesen sei.

Selbst für jene, die trotz kostenloser Bahnen und Busse lieber zu Hause bleiben wollten, hält Horn einige Vergünstigungen bereit: Plötzlich erkannten die staatlichen Stromerzeuger, daß eine für April geplante Preiserhöhung nun doch nicht mehr notwendig sei. Angestellte des Gesundheitswesens und Lehrer dürfen sich zudem in den kommenden Wochen auf unerwartete Gehaltserhöhungen freuen.

Es scheint, als würde die spendable Regierung bei den Wahlen die Früchte ihrer Versprechungen ernten: Satte 39 Prozent würden nach Umfragen derzeit Horns Sozialisten von der MSZP wählen, mit deutlichem Abstand und rund 22 Prozent Wählerzustimmung folgen die neoliberalen Jungen Demokraten der FIDESZ. Die Wurzeln dieser Jungdemokraten wurden inzwischen unkenntlich gemacht, aus der ehemaligen parteiunabhängigen Jugendbewegung wurde ein nationalistisch angehauchter Yuppie-Club. Das Zielpublikum wurde verbreitert, indem ein wesentlicher Punkt des bisherigen Parteistatuts im Herbst letzten Jahres fiel: Künftig dürfen auch Menschen über 35 Jahre Mitglied bei FIDESZ werden.

Gefahr droht Horn lediglich von seiten seines bisherigen und wohl auch künftigen Koalitionspartners: Der Bund der Freien Demokraten (SZDSZ) droht, in politischer Bedeutungslosigkeit zu versinken. Nur neun Prozent der Wähler würden zur Zeit dieser Gruppierung ihre Stimme geben, was die Koalition ihre Mehrheit kosten könnte.

Allen Bewerbern gemeinsam ist die Bemühung nationalistischer Phrasen und Slogans. Auffällig dabei sind nicht einmal so sehr die antisemitischen Äußerungen von Vertretern der Kleinlandwirte-Partei oder des vor 1994 regierenden Ungarischen Demokratischen Forums (MDF). Denn beide Parteien spielen kaum noch eine Rolle. Das MDF hat sogar ernsthafte Probleme, die Hürde von fünf Prozent zum neuerlichen Einzug ins Budapester Parlament zu schaffen.

Vielmehr entwickelt sich ein eher verhaltener Nationalismus - im Schlepptau der Westintegration des Landes - zum neuen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Die rasanten Schritte Ungarns in Richtung EU und Nato führen - wie in Deutschland und Österreich auch - zu einer verstärkten Abschottung nach Osten. Ungarn geriert sich dabei als Musterschüler der westlichen Staaten. Als Österreichs Innenminister Karl Schlögl kürzlich von Ungarn die Einführung der Visumpflicht für Rumänen forderte, parierte Ministerpräsident Gyula Horn, so gut er konnte. Wegen der "ungarischen Minderheit" in Rumänien sei die Einführung einer Visumpflicht derzeit zwar nicht möglich, ansonsten plädiere er aber "für noch viel härtere Maßnahmen".

Die Abschottung der Grenzen gen Osten liegt dabei in Ungarns ureigenstem Interesse: Jeder Flüchtling, der es schafft, über Ungarn nach Österreich zu gelangen, wird wieder zu den Magyaren zurückgeschickt, was - wie Regierung und Opposition übereinstimmend äußern - für Ungarn zu kostenintensiv sei.

Den Ungarn paßt der Kurs ihrer Regierung. An nichts ist ihnen mehr gelegen, als endlich in EU und Nato aufgenommen zu werden. Dabei scheint es nur recht und billig, daß die eigene Bewegungsfreiheit Richtung Westen auf Kosten der Bewegungsfreiheit anderer geht. Ein bißchen Folklore darf da nicht fehlen. Es geschah wohl nicht zufällig, daß Gyula Horn seinen Wahlkampfauftakt in die offiziellen Feiern des Revolutionsjahres 1848 integrierte.

Eingestimmt durch die Geschenke Horns, die Beschwörung magyarischen Opfermutes, mit dem der Aufstieg erkämpft wird, und die Aussichten auf ein zumindest gen Westen grenzenloses Europa, werden die Ungarn ihrem Premier wohl wieder das Vertrauen aussprechen. Und der wird sie - quasi im Gegenzug - nicht enttäuschen.