Bahamas in Brüssel

In Belgien gibt es keine Krise. Belgien ist die Krise

Schon wieder eine Staatskrise: Am 23. April entwischte der unter dem Verdacht des mehrfachen sexuellen Mißbrauchs und des mehrfachen Mordes an Kindern inhaftierte Marc Dutroux seinen Bewachern, zwei Gendarmen, die ihn zum Studium der Verfahrensakten ins Gerichtsgebäude des Ardennenstädtchens Neufch‰teau eskortiert hatten. Vier Stunden später wurde der Flüchtige im Rahmen einer Großfahndung wieder eingefangen, vier weitere Stunden später waren der Justiz- und der Innenminister zurückgetreten. Seitdem spekuliert Belgien über die Umstände, unter denen der meistgehaßte Häftling des Landes entkommen konnte, die Regierung unter Premier Jean-Luc Dehaene mußte sich einem - erfolglosen - Mißtrauensvotum des Parlaments unterziehen, schließlich trat auf energischen Druck von oben auch der Chef der militärisch organisierten Gendarmerie zurück.

Die deutsche Presse reagierte lustlos bis gar nicht. Der Focus sprach von einem "politischen Erdbeben", der Spiegel von einer "BIamage für den Staat", die Woche brachte ein Foto des erneut gefaßten "Kinderschänders" als "Bild der Woche". Der Stoff für lange Storys ist aufgebraucht: Nachdem Dutroux im August 1996 verhaftet worden war und der "Weiße Marsch" - angeführt von den EItern ermordeter und verschwundener Kinder - um die 300 000 Leute zum "friedlichen Protest" gegen die Unfähig- und Untätigkeit des Justizapparates in Brüssel zusammengebracht hatte, war das "belgische System" zum Analyseobjekt erster Priorität avanciert. Unter dem Titel "Im Tal der Finsternis" fragte der Spiegel: "Wird das Kernland der EU zur europäischen Bananenrepublik?" Die Zeit annoncierte ein "Steuerhinterziehungsparadies, das sein Gemeinwesen verrotten ließ".

Maß genommen wurde stets - zum Teil explizit und mit Häme - am deutschen Erfolgsmodell der bürokratisch-repressiven Gemeinwesenverwaltung und der Willensgemeinschaft zwischen Herrschaft und Gefolge. Thema der Betrachtungen waren der Zustand des belgischen Staatsapparates in historischer Perspektive und die Chancen und Grenzen der Bürgerbewegung des "Weißen Marsches", die den Zustand des belgischen Staatsapparates verbessern will.

So fanden die meisten Untersuchungen heraus, daß der belgische Staatsapparat in einer katastrophalen Verfassung ist: "Verwahrlosen ließen die Belgier auch die staatlichen Institutionen. Polizisten tun Dienst in Büros, deren Mobiliar und technische Ausrüstung aus der Vorkriegszeit stammen. Sie werden schlecht bezahlt und gering geachtet." (Spiegel) Stimmt, klingt nicht unsympathisch, ist aber zu relativieren, eingedenk der Tatsache, daß die Knüppelbrigaden der belgischen Polizei bei Demonstrationen gegen Betriebsschließungen immer auf Zack sind.

"Es ist eine geschlossene ehrenwerte Gesellschaft, zu der nur gehört, wer von der Wiege bis zur Bahre seinem Clan treubleibt. Ein christdemokratischer Politiker hat nicht nur einen katholischen Kindergarten, eine katholische Schule, eine katholische Universität besucht und mit katholischen Pfadfindern seine Schulferien verbracht, er schließt auch eine christliche Krankenversicherung ab." (Spiegel) Stimmt auch, klingt unsympathisch, aber wenig sensationell. "Kaum ein Posten in Verwaltung, Justiz und Polizei, der nach Kompetenz und Qualität vergeben wird. Allein entscheidend ist, ob der Richter oder der Ministerialbeamte das richtige Stammbuch - christlich, sozialistisch oder liberal - besitzt" (Spiegel, stimmt auch). Gibt es Abhilfe? Der Spiegel hat wenig Hoffnung: "In Belgien reguliert nicht der Staat die Gesellschaft, sondern diese hat sich den Staat zur Beute gemacht."

Dirk Schümer dagegen, Kulturjournalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat ein Buch über Belgien geschrieben und mag nicht resignieren. In einem Interview mit der deutschsprachigen belgischen Tageszeitung Grenzecho beschreibt er den Ausweg: "Bei mir ist die Empörung über alle diese Dinge so groß, daß ich mir wünschen würde, das ganze System würde hinweggefegt, wie es in Italien nach vielen Mühen dann doch noch gelungen ist. Ich wünsche mir, daß die größten Korruptionstäter, die größten Zyniker und Mißbraucher der staatlichen Gewalt endlich verschwinden. (...) Ich will ja keine preußischen Zustände für Belgien, aber ein Minimum an Etatismus müßte das Gebot der Stunde sein."

Das Etikett "postdemokratisch" (Spiegel) paßt zum belgischen Staatsapparat. Es handelt sich hier um eine offen betriebene Proporz- und Pfründenwirtschaft, deren Spielräume sich im Übergang vom keynesianischen Verteilungssystem zur neoliberalen Deregulierung dramatisch verengt haben. Zur Analyse dieses - auch im belgischen Separatismus aufscheinenden - Korporationsmodells taugt am ehesten Wolfgang Pohrts Soziologie des Bandenwesens, denn angesichts der ungeahndeten kriminellen Energie des Establishments scheint ein Umschlag von Quantität in Qualität vorzuliegen, der es verbietet, die Theorie der parlamentarischen Demokratie, die ja Klientelwirtschaft, Korruption und unrechtmäßige Bereicherung durchaus kennt, zu Rate zu ziehen.

Der gemeine Belgier aber steht als paranoider Depp da: Traditionell wenig um die Angelegenheiten der Obrigkeit bekümmert, zieht er in den letzten Monaten häufig vor das Brüsseler Amtsgebäude und klagt vergeblich Moral, Anstand und den Rücktritt korrupter Politiker ein. In Person von Paul Marchal, dessen Tochter zu den Mordopfern zählte, hat er die "Partei für neue Politik" gegründet, die Umfragen zufolge bis zu neun Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr gewinnen könnte. Die Berliner Zeitschrift Bahamas, ein Spartenblatt für die Sozialpsychologie des Pöbels, unterstellte vor einigen Monaten, es handele sich bei der "Weißen Bewegung" um eine Ansammlung autoritärer Charaktere in der Phase der endgültig zusammenbrechenden Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums. Richtig ist daran, daß den Opfern realer - die gibt es im Bandenstaat durchaus - und vermeintlicher Verschwörungen die Einsicht in die Lächerlichkeit ihrer Aktionen nie kommen wird. Aber ein "lynch mob" (Bahamas) ist die "Weiße Bewegung" nicht. Der ist in Deutschland zu Hause und hat vor kurzem seine DNA-Proben bei der Polizei hinterlegt.