Arm und berühmt

Die Bühne sucht Anschluß an die Popkultur - 3. Theaterwerkstatt in Berlin

Merkwürdig, daß gerade mal wieder alles Pop sein will, wo sich doch die genuine Popmusik derzeit in einem einigermaßen desolaten Zustand befindet. Im seriösen Kulturbetrieb ist mit Pop wohl am ehesten die oft längst überfällige Hinwendung der ernsthaften zur Unterhaltungskultur gemeint. Daß damit nicht notwendigerweise eine Abwärtsbewegung impliziert ist, sondern viel eher ein taktisch seitlicher Drift, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß sämtliche Erzählmuster der Unterhaltungskultur ehedem der Hochkultur entlehnt sind, daß mithin die klassische Soap gar nicht anders kann, als das klassische griechische Drama populär transformiert zu perpetuieren. Die Popisierung der hochkulturellen Genres ist also oftmals der Versuch, zu überholen, ohne einzuholen.

Besonders schwer tut sich damit immer noch das Theater, wo allzu zeitnahe Aktualisierungen der Stoffe oft etwas peinlich aufgesetzt wirken. Andererseits ist hier das Nadelöhr, um reich und berühmt zu werden, enger als andernorts. Dies alles mitzureflektieren, war der Ansatz der insgesamt gelungenen 3. Theaterwerkstatt "reich & berühmt '98", die am vergangenen Wochenende im Podewil parallel zum Berliner Theatertreffen stattfand.

Die Suche nach Auswegen aus den Aporien des Frontaltheaters reichte von der multimedialen Performance bis zur Neuauflage der Commedia dell' arte mit Anleihen an den in jüngster Zeit besonders in Hamburg populären "Theatersport". Klassisch nahm sich noch das an drei Tagen aufgeführte Headliner-Stück unter dem etwas irreführenden Titel "Genetic Woyzeck" aus. Wer hier Porn & Slang statt Sturm und Drang erwartet hatte, wurde gelinde enttäuscht, dafür auf andere Weise mehrfach entschädigt.

Auch wenn Woyzeck alias Lars Rudolph die enge Uniform gegen die enge Clubgänger-Trainingsjacke getauscht hatte, wird der Text original und in voller Länge vorgetragen. Daß und wie so etwas funktionieren kann, wissen wir nicht erst seit der jüngsten Kino-Fassung von "Romeo und Julia", und der Woyzecksche Hospitalismus ist dem aktuellen Metropolen-Nachtleben ja auch nicht ganz fremd. Insofern paßt das.

Eher ungewohnt ist das Setting: In einem Plexiglaskäfig eingesperrt, verfolgt das Publikum Woyzeck im großen kargen Bühnenraum der Kirche, der das Freigehege seines Kopfes abgibt. Über Großleinwände werden die übrigen Rollen eingespielt, die von prominenten Zeitgenossen - von Markus Lüpertz über Hanna Schygulla über Udo Lindenberg bis zu Nick Cave - zuvor auf Video eingesprochen sind.

Während diese medial auf Woyzeck herumhacken, ihn verspotten, examinieren und zum Essen seiner Versuchs-Erbsen nötigen, endoskopiert sich jener zu Techno-Klängen mit einer Schlauchkamera, was von der Technik auf Monitor-Bildschirme im Zuschauerraum übertragen wird. Eine durchaus beeindruckende Neufassung des klassischen Büchner-Stoffes durch die regieführenden Harriet Böge und Peter Meining, die die oft versuchte, in den seltensten Fällen geglückte Anschlußfähigkeit des Theaters an die Neuen Medien unter Beweis stellt - dennoch eine klassische Inszenierung.

Den Versuch, das Vorgegebene der Inszenierung zu unterlaufen, unternehmen die Arbeiten "Radar Radar nichts ist egal" der Gießener Combo showcase beat le mot oder "Trust! Schließlich ist es ihr Geld" von She She Pop. "Unbestimmtheitsstellen", die nach Roman Ingarden jedes gelungene Kunstwerk aufweisen muß, bilden hier das eigentliche Gerüst und sind gleichzeitig ein bewußtes Risiko für die Akteure, die sich auf Gedeih und Verderb ans Publikum ausliefern. Die Dos and Don'ts dieses wagnisreichen Happeningtheaters haben showcase beat le mot in einer Art Manifest niedergelegt, das wegen seiner Allgemeingültigkeit eigentlich an allen Off-Theatern aushängen sollte. Die wichtigsten Punkte aus "Mitteilungen über das Theater in zwanzig Jahren" sind:

"1. Sei Dir im klaren, daß das staatliche Theater korruptes Beamtentheater ist: Es ist Dein Gegner.

2. Beschwere Dich nicht darüber, daß Du kein Geld hast, laß Dir was einfallen. (...)

8. Zieh Dich niemals auf der Bühne aus und brülle nicht rum. Das schockt doch nicht mal Abonnenten-Omas. (...)

12. Habe keine Angst, unterhaltsam zu sein.

13. Es gibt auch noch andere Musik als Philip Glass und Tom Waits fürs Theater. (...)

25. Versuche auf der Bühne ein Popstar zu sein. Das Publikum muß dankbar sein, von Dir bemerkt zu werden. (...)

31. Wenn Leute ab 40 Deine Stücke nicht verstehen, bist Du auf dem richtigen Weg."

Ebenfalls in die Bereiche DJ-Culture und Catering ausfransend und mit hohen Erwartungen behaftet war "Table dance"-Performance von She She Pop: Acht Frauen, die sich laut Eigenauskunft auf einer Pantomime-Tournee durch die Ostsee-Strandbäder begegnet und nähergekommen sind, bieten im Butterfahrt-Stil unterschiedliche Show-Nummern an und kokettieren mit einer Aura der Käuflichkeit. Daß sie, um es überhaupt soweit zu bringen, mit Technikern, Regisseuren und Kurdirektoren von St. Peter Ording ins Bett gehen mußten, fällt darunter und soll beim Publikum gleichermaßen Mitleid wie Begehrlichkeit wecken. Den Fakt, daß einige von ihnen weder singen noch rappen, noch besonders gut schauspielern können, kompensieren die acht, nicht von ungefähr an die Spice-Girls erinnernden Performerinnen mit Humor, der im wesentlichen Selbstironie ist, nebst einer vorgeschützten Verwegenheit, die man ihnen am Ende jedoch so recht nicht abkauft.

Zum echten Teasing gehört wohl doch noch mehr - ganz abgesehen davon, wie man sich grundsätzlich gegenüber Bühnenerotik positionieren mag. Mit ihrer Methode, die Qualität der Darbietung direkt von der durch Kollekten ermittelten Zahlungsbereitschaft des Publikums abhängig zu machen, treffen sie allerdings den Kern ökonomischer Basisbedingungen heutigen Kunstschaffens und setzen die allgegenwärtigen trade-offs moderner Kulturproduktion in Szene. Vollständig d'accord mit der materialistischen Theorie wird nicht nur der einzelne Kaufakt, sondern die gesamte Zirkulationssphäre modelliert, wenn das Publikum mit Groschenbeträgen bestochen wird, Applaus zu spenden.

Lediglich bei der Verhandlungsführung hapert es, etwa wenn einem Zuschauer das mit 1 Mark angesetzte Sahne-von-der-Haut-Schlecken bereits für fünf Pfennig gestattet wird.

Ob sich hinter dem offensiv geäußerten Satz "Wann und wo wir uns ausziehen, das bestimmen wir selbst", bereits ein neues selbstbewußtes Bitch-role-model verbirgt, darf getrost bezweifelt werden. Nur zu verständlich hingegen, daß bei einem Spendenaufkommen von 7 Mark 80 für den neben der "Ping-Pong-Nummer", der "häßlichsten Performance der Welt" und "echten Tränen" auch im Angebot befindlichen "Strip" keine der Damen bereit war, die Hüllen ganz fallen zu lassen, und ich vermute, daß das selbst für größere Beträge nie wirklich vorgesehen war.