Atommüll, in Beton gegossen

In der Wiederaufbereitungsanlage von La Hague holt man sich schnell mal die doppelte radioaktive Jahresdosis

Das gerne und häufig präsentierte "Saubermann-Image" der französischen Nuklearindustrie ist in den letzten Tagen wieder einmal gründlich erschüttert worden: Ein Bericht der linksliberalen Tageszeitug Libération über verseuchte Atomtransportzüge und Untersuchungen von Greenpeace haben erneut für Diskussionen um Sicherheitsmängel in der nordfranzösischen Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in La Hague gesorgt. Erst Anfang 1997 hatten Veröffentlichungen eines britischen Ärzteblattes zur überdurchschnittlichen Häufigkeit von Leukämiefällen im Umland der WAA sowie Radioaktivitätsmessungen von Greenpeace im Ärmelkanal - dort, wo die Abwässer der Atomfabrik eingeleitet werden - eine mehrere Wochen anhaltende Debatte um die von La Hague ausgehenden Strahlengefahren ausgelöst (Jungle World, Nr. 6/97).

Am 26. April nahmen Greenpeace-Aktivisten einmal mehr Strahlenmessungen an der Küste der Halbinsel Cotentin, auf der La Hague liegt, vor und stießen dabei auf eine im Meer versenkte Betonmasse, deren Strahlungsaktivität gegenüber der Umgebung um das 100- bis 4 000-fache höher liegt. Die Cogema (Compagnie générale des matières nucléaires), Betreiberfirma der WAA, gab daraufhin zu, das alte Einleitungsrohr für radioaktive Abfälle - das neue ist 1,6 Kilometer lang - in den achtziger Jahren einfach in Beton gegossen und versenkt zu haben. Nun scheint sich im Inneren des Rohres eine Rinde radioaktiver Abfallstoffe abgelagert zu haben. Greenpeace sprach daraufhin von einer "wilden Atommüllkippe"; die enthaltenen Substanzen könnten sich möglicherweise in Fischen und Meeresfrüchten wiederfinden.

Ende April veröffentlichte dann die Direktion für Sicherheit der Nuklearanlagen, DISN, einen Bericht über die Verseuchung von Atomtransportzügen, die (aus französischen AKWs, aber auch aus Deutschland und der Schweiz) nach La Hague rollen. Das Pressekommuniqué wäre in der Öffentlichkeit beinahe unbemerkt geblieben, da die DISN es praktischerweise am Vortag des 1. Mai - an dem die Tageszeitungen nicht erscheinen - in die unbesetzten Redaktionen faxte.

Doch Libération griff das Thema auf und brachte es, mit eigenen Recherchen unterlegt, am 6. Mai auf der Titelseite. Bereits zwei Tage zuvor hatte der für den Nuklearsektor zuständige Staatssekretär im Industrieministerium, der Sozialist Christian Pierret, die Flucht nach vorne angetreten und war nach La Hague geeilt. Dort erklärte er vor versammelten Lokalpolitikern in der Nuklearfabrik: "Ich bin gekommen, um zwei Nicht-Ereignisse festzustellen" - nämlich die Mitteilungen von Greenpeace sowie jene der DISN - und "um die lokale Bevölkerung zu beruhigen".

Aus den Angaben der DISN sowie von Libération geht hervor, daß ein Teil der Behälter mit abgebrannten Brennelementen aus Atomkraftwerken, die am Bahnhof von Valognes ent- und für den Transport ins nahe La Hague auf Lkws umgeladen werden, auf ihren Außenflächen mit radioaktiv strahlenden Partikeln bedeckt sind. Demnach wiesen im Jahr 1997 rund 35 Prozent der (insgesamt 208) Transportzüge eine entsprechende Strahlung auf; für die ersten Monate dieses Jahres wird dasselbe für 15 von insgesamt 60 Transporten konstatiert.

Die grüne Umweltministerin Dominique Voynet, die gegenüber Libération die Recherchen bestätigte, gibt an, in einem Fall habe die Strahlung das 500fache des zulässigen Grenzwerts von vier Millisievert pro Quadratzentimeter betragen. Personen, die - meist ohne Handschuhe und Kopfbedeckung - die Atommüllbehälter umladen, könnten demnach binnen zwei Stunden durch Kontakt mit dem radioaktiven Staub die zulässige Jahresdosis an Strahlen abbekommen. In der provisorischen Entseuchungsstelle im Bahnhof von Valognes, wo der strahlende Staub mit Lappen abgewischt wird, genügt derselbe Zeitraum, folgt man der Ministerin, um das Zwanzigfache der Jahresdosis abzubekommen.

Während für die Mitarbeiter der Nuklearindustrie - die die Umladung vornehmen - eine Messung der Strahlenbelastung vorgenommen wird, unterbleibt diese bei den an ihrer Seite arbeitenden Eisenbahnern. Eisenbahngewerkschafter fordern daher seit Jahren von der Bahngesellschaft SNCF, ihre Mitarbeiter besser zu schützen. SNCF hat nunmehr reagiert und den vorläufigen Stopp aller Atomtransporte nach La Hague angekündigt, bis die Risiken für ihre Mitarbeiter genau geklärt sind; die Gewerkschaft CFDT fordert dazu eine längerfristige Beobachtung der Gesundheitsbilanz jener Kollegen, die in den letzten Jahren in Valognes arbeiteten. Insgesamt sind rund 200 Personen betroffen, von denen zehn in großer räumlicher Nähe zu den Atommüllbehältern tätig waren.

Die Verseuchungen sind, letzten Veröffentlichungen zufolge, "seit Anfang der neunziger Jahre" aufgetreten, was auf "ein Leck im Sicherheitskreislauf (von der Brennelementefabrikation bis zur Lagerung des Atommülls)" schließen lasse. Wahrscheinlich haben sich die radioaktiven Substanzen demnach in den wassergefüllten Kühlbecken der AKWs, in denen die Brennstäbe nach Gebrauch für etwa drei Jahre lagern, um die Strahlung abklingen zu lassen, auf den Behältern abgesetzt.

Bemerkenswert ist vor allem, daß trotz Kenntnis der Tatsachen seit Anfang der neunziger Jahre keine nukleare Kontrollbehörde diese Informationen bisher veröffentlicht oder auch nur die SNCF und ihre Beschäftigten - als Hauptbetroffene - davon in Kenntnis gesetzt hat. Die Pariser Abendzeitung Le Monde konstatiert deswegen: "Einmal mehr zeigen die Führung der Cogema und (die Stromgesellschaft und AKW-Betreiberin) EDF, daß sie noch immer nicht die Transparenz der Information herstellen, die sie an anderem Ort predigen."

Dominique Voynets Amtsvorgängerin Corinne Lepage - eine bürgerliche Ökologin, die der konservativen Juppé-Regierung als hellgrünes Feigenblatt diente, nachdem sie als Rechtsanwältin für AKW-Gegner tätig gewesen war - hat jüngst in einem Buch festgestellt, daß man auch aus dem Umweltministerium heraus schlicht "nichts gegen die Atomlobby machen" könne. Denn noch immer kontrolliere diese sich selbst, da die Berufsaussichten der Experten - die von den Strahlenkontrolleuren herangezogen werden - zum allergrößten Teil von der Nuklearindustrie abhängen.