Agni gegen Ghauri

Nachdem Indien im Atomtesten vergangene Woche fünf Knaller vorgelegt hat, bemüht sich Pakistan um einen Anschlußtreffer

"Indien hat die große Bombe". Richtig stolz war der indische Premier Atal Bihari Vajpayee nach den fünf Atomtests Anfang und Mitte letzter Woche. Zumal "sein Land" auch im Besitz der dazu passenden Sprengköpfe und Trägerraketen sei: "Prithvi" (Reichweite 250 km), die ebenfalls letzte Woche getestete "Trishul" (Reichweite 50 Kilometer) und die strategisch besonders bedeutsame Langstreckenrakete "Agni" (Reichweite 1 500 Kilometer, benannt nach dem Feuergott der Hindus) stehen zur Verfügung. Also alles, was eine Kernwaffenmacht strahlen läßt. Ärgerlich nur, daß Pakistan ebenfalls eigene Atomtests angekündigt hat und die USA Wirtschaftssanktionen - Entwicklungshilfestopp, Einschränkungen bei Finanztransfers, Sperrung von Krediten - durchgesetzt haben. Bereits vor vier Wochen hatte Pakistan zudem eine nuklearfähige Langstreckenrakete (Reichweite 1 500 Kilometer) getestet und ihr den schönen Namen Ghauri - benannt nach einem afghanischen Eroberer, der im 12. Jahrhundert mit seinen Truppen in Indien einfiel - gegeben.

Aber wozu rüstet Indien atomar auf und warum ausgerechnet jetzt? Seit ihrer jeweiligen Unabhängigkeit 1947 haben Indien und Pakistan dreimal Krieg gegeneinander geführt. Außenpolitischer Hauptstreitpunkt ist dabei die von beiden Staaten beanspruchte Kaschmir-Region, die in einen islamischen Norden und einen hinduistischen Süden aufgeteilt wurde. Die Feindschaft der beiden Staaten wird zudem durch die Rolle Chinas, mit dem Indien ebenfalls Grenzstreitigkeiten hat, nicht gerade vereinfacht. Die in den letzten Jahren eher ruhige Konfliktlage hat sich verschärft, seit in Indien die nationalistisch-hinduistische Bharatiya Janata Partei (BJP) die Regierung stellt, während in Pakistan die radikal-islamische Moslemliga, ebenfalls extrem nationalistisch, an der Macht ist. Schon vor den Wahlen im März trat die BJP lautstark für die militärische Nuklearoption ein. Und wenige Tage vor den Atomtests stellte der indische Verteidigungsminister George Fernandes fest, China sei die größte Bedrohung für Indien. Hintergrund: Indien verdächtigt China, die Atomwaffenentwicklung in Pakistan zu unterstützen, was der indischen Regierung zur Begründung ihrer atomaren Aufrüstung diente, man wolle ja nur den pakistanischen Griff zur Bombe abwehren, hieß es aus Neu-Delhi. Genau das gleiche behauptet natürlich Pakistan von Indien - China hält sich gegenwärtig vornehm zurück.

Das außenpolitsiche Freund-Feind-Denken ist aber nur eine Seite der Medaille, denn innenpolitisch herrscht sowohl in Indien wie in Pakistan eine wirtschaftliche und soziale Krisensituation, die für große Teile der Bevölkerungen existenzbedrohend ist. In Neu-Delhi und Islamabad versuchen daher die herrschenden Kräfte mit noch mehr nationalistischer Ideologie und religös-autoritären Phrasen zu überdecken, daß sie nicht in der Lage sind, eine Antwort auf die ökonomische Krise zu finden, die ganz Asien erfaßt hat. Diese Reaktion ist auch aus westlichen Industriestaaten bekannt: von innenpolitischen Problemen soll abgelenkt werden, indem die eigene außenpolitische Machtstellung in den Vordergrund geschoben wird. Die gegenseitige Drohung mit Massenvernichtungswaffen deutet dabei das Ausmaß der innenpolitischen Krisen Indiens und Pakistans an. Beide Staaten haben sich auf den Teufelskreis des nicht gerade billigen Rüstungswettlaufs eingelassen und spitzen nun die Situation weiter dramatisch zu, indem sie auf Nuklearstrategie setzen. Und Politiker beider Seiten haben letzte Woche keinen Zweifel daran gelassen, daß sie ihre Nuklearwaffen auch zünden würden.

Nicht nur entsteht so ein unkontrollierbares atomares Pulverfaß, weil bezeichnenderweise sowohl Indien als auch Pakistan keinem internationalen Kontrollabkommen (Teststopp- und Atomwaffensperrvertrag) angehören. Höhere Militärausgaben ziehen auch größere Belastungen der nationalen Ökonomien nach sich, die innenpolitischen Konflikte dürften damit angeheizt werden. Die vergangene Woche von den USA und anderen westlichen Staaten (Japan, Schweden) verhängten Wirtschaftssanktionen werden, sofern sie Wirkung zeigen, ihr übriges dazu tun oder zumindest den jeweiligen Machthabern als Argument dienen, um einen Sündenbock für die Verschärfung der Krise anzubieten.

Gleichzeitig melden sich westliche Militärexperten wie der Brite Andrew Duncan zu Wort, die unter Verweis auf das atomare "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Ost und West die These formulieren, eine ähnliche Nuklearbalance zwischen Indien und Pakistan würde einen Krieg auf Dauer eher zu verhindern helfen. Diese Verharmlosung der seit Jahrzehnten absehbaren Zuspitzung des Konflikts in Asien ignoriert, daß sich mit Indien, Pakistan und China drei nuklearfähige Mächte mit ausgeprägten Eigeninteressen gegenüberstehen - nicht zu vergessen die USA, die alle drei unter Kontrolle halten will. Auch geht es bei diesem Aufeinanderprallen von Weltmachtambitionen keineswegs allein um "Spannungen, die hausgemacht" seien, wie kürzlich Harald Müller von der hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in einem Interview mit dem Neuen Deutschland behauptete - so, als wären die Nuklearbefähigungen Indiens und Pakistans ohne westliche Unterstützung zustande gekommen.

Von der auf gegenseitigen Bedrohungsannahmen fußenden Strategieentwicklung bis zur zuletzt angedeuteten Bereitschaft Indiens, den Teststopp-Vertrag doch noch zu unterzeichnen - nach den Tests habe man genügend Daten für die weitere Atomwaffenentwicklung - zeichnet sich ein politisches Verständnis ab, das dem des Westens stark ähnelt. Hatte Frankreich, das mittlerweile den Teststopp unterzeichnet hat, seine letzten Atomtests nicht ähnlich begründet? Daß jetzt ausgerechnet die USA als ältester und größter Besitzer von Atomwaffen Indien als nuklearen Bösewicht hinstellen will, muß als Heuchelei empfunden werden. Eine höchst gefährliche allerdings, denn das Pentagon hat sich eine sogenannte "counter proliferation strategy" (Strategie gegen die Weiterverbreitung) zurechtgelegt, die vor zwei Jahren auch von der Nato offiziell übernommen wurde und die acht Stufen vorsieht, mit der man Regierungen oder Terroristen davon abhalten will, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Die Maßnahmen reichen von diplomatischen Bemühungen über Sanktionen bis hin zur Androhung - und eventuellen Durchführung - eines Nuklearwaffeneinsatzes, der seinerzeit mit Blick auf den Irak als letzter Schritt formuliert wurde.

Die Diplomatie wurde bereits bemüht, als Ende letzter Woche die USA Emissäre nach Islamabad schickten, um Pakistan von eigenen Atomtests abzuhalten. Auch die Wirtschaftssanktionen gegen Indien sind bereits in Kraft getreten. Was als nächstes kommt, hängt davon ab, welche Bündnispartner die USA gegen die neuen Kernwaffenmächte mobilisieren kann. Die CIA jedenfalls veröffentlichte 14 Tage vor den indischen Tests einen Bericht, wonach 13 der 18 atomar bestückbaren CSS-4-Interkontinentalraketen Chinas (Reichweite: fast 13 000 Kilometer) auf US-Städte zielprogrammiert seien - und trug so auf ihre Weise zur derzeit geführten Diskussion (Jungle World, Nr. 20/98) um die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags im Jahr 2000 bei.

Die indischen Atomtests und der zu erwartende pakistanische Konter haben die Ansätze dieser Diskussionen ins Stocken gebracht. Der radikalste Schnitt, der freilich auch am weitesten entfernt scheint, wäre zur Zeit, ähnlich dem internationalen Verbot biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen, über die Ächtung von Nuklearwaffen unter Einbezug aller Atomwaffenstaaten zu verhandeln. Wie ihre Vorgänger hat auch die jetzige Regierung Indiens wiederholt unterstrichen, sie sei dazu sofort bereit. Eine Mitgliedschaft im ohnehin löchrigen Teststopp-Vertrag - computergestützte Tests bleiben erlaubt - beseitigt ja keine existenten Atomwaffen. Oder die Möglichkeit, welche zu produzieren.