Deutsches Haus

Roman Herzog, der Bundespräsident, hat ausgerechnet, daß die deutsche Demokratie 150 Jahre zählt.

"Daß dieser Marx überhaupt keine Ruh gibt - das versteh' ich nicht", wunderte sich vor Jahren Gerhard Polt. Und inzwischen, so liest man, hat es in New York sogar ein richtiggehendes Marx-Revival, dergestalt, daß eine Luxusausgabe des "Kommunistischen Manifests", wenn sie schweinsledern aus der Hinternbackentasche lugt oder beiläufig auf ein Bistrottischchen plaziert wird, die Flirtquote ungemein verbessert.

Ja, glaubte man der Zeit und Jörg Lau, so hätte Marx nicht nur die Globalisierung vorausgesehen und ob ihrer zivilisatorischen Leistungen gepriesen, es ginge auch jeder New Yorker, der hip sein will und seinen Marx doch nicht parat hat, allein ins Bett. Aber, damit keine Mißverständnisse aufkommen, "Karl Marx war blind gegenüber Demokratie und Menschenrecht".

So war der dümmste Satz des Jahres schon am 14. Mai geschrieben. Frank Schirrmacher, Klaus Hartung, Cordt Schnibben und die anderen Federn dürfen aufatmen, halblang machen und endlich ihre Überstunden abfeiern. Was aber weiß, wer nichts von Marx weiß, noch von ihm? Der Staat, meldete sich vier Tage später Roman Herzog, soll irgendwie totgehen. Und tatsächlich, kletterte unser Bundespräsident anläßlich der hundertfünfzigsten Wiederkehr der Frankfurter Paulskirche abermals zu einer großen Rede aufs Podium, sei heute immerfort vom schlanken Staat die Rede. Kann er da nicht allzu leicht verhungern? "Wird ihn nicht der Verlust an Kompetenzen nach und nach so schwächen, daß er unbedeutend wird, gar abstirbt, wie es einst Karl Marx voraussagte?" Hat, mit anderen Worten, Marx auch den Grafen Lambsdorff vorhergesehen, oder ist Westerwelle ein Kommunist?

Das war, wenn denn der uralte feuilletonistische Trick, alles, was nicht zusammengehört, in einem Topf aufzukochen, irgendwelche Hirntätigkeit erfordert, präzis feuilletonistisch gedacht, folglich reiner Blödsinn und ein kongenialer Beitrag zur Generaldebatte um die Zukunft von "Demokratie und sozialer Marktwirktschaft" (Herzog). Mein Gott, mag es trotzdem einigen der geladenen Gäste zwischen die Ohren gefahren sein, wenn der Staat nicht mehr lebt, wer zahlt dann meine Pension? Man kann sie beruhigen: Die Liberalen wollen den Staat nicht wirklich kaltmachen, sie wollen ihn nur von seinen Verteilungsaufgaben entlasten und werden ihn, damit er seine Herrschaftsaufgaben erfüllt, um so großzügiger mit Geld und Personal ausstatten. Polizei, Justiz und Armee versprechen weiterhin glänzende Karrieren, nur wer noch immer im Sozialamt sitzt, sollte den athletischen Staat fürchten.

Nun muß es sich bei einem Satz, in dem Marx anscheinend recht behält, zweifellos um eine rhetorische Frage handeln, die nur eine Antwort zuläßt: "Ich glaube, das Gegenteil wird der Fall sein. Wenn der Staat schlanker wird, wenn seine Strukturen und Aufgaben transparenter werden, wird zugleich für alle sichtbar, für welche Aufgaben er unverzichtbar bleibt: Menschenrechte, Rechtssicherheit, demokratische Willensbildung, nationale Identität, Sicherung von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand." Entfernt man aus diesem Katalog den offenkundigen Unsinn, der Staat möge für den Wohlstand sorgen, und allen barmherzigen Schmus, der außerhalb präsidialer Sonntagsreden einem strengen Finanzierungsvorbehalt unterliegt, so bleiben Rechtssicherheit und nationale Identität. Man wird also auch zukünftig darauf vertrauen dürfen, daß der Nachbar einem nicht ungestraft den Schädel einschlägt und daß die Aneignung fremder Arbeit zu den Grundrechten zählt. Danke, lieber Staat!

Nationale Identität braucht große Traditionen. Eine solche rückwirkend zu stiften und entsprechend zu zelebrieren, hatte man sich am 18. Mai in der Paulskirche versammelt. Herzog erinnerte daran, "mit welchem Glanz Frankreich das Jubiläum von 1789 gefeiert hat, obwohl an dieser Revolution weiß Gott nicht alles Gold war", und fragte sich zugleich, "warum die Geburtsstunde der deutschen Demokratie bei uns nicht zu dem gleichen stolzen Gedanken führt". Vielleicht liegt es daran, daß sie erst mit hundertfünfzigjähriger Verspätung kam und selbst dann noch von einer Militärdiktatur der Weltkriegsalliierten herbeigezwungen werden mußte? Aber nein, ganz falsch: Die deutsche Demokratie begann in Wahrheit schon 1848, nur merkte man im folgenden Jahrhundert kaum etwas von ihr: "1848 begann in Deutschland eine neue Zeit. Auch wenn es danach schwere Rückschläge gab: Was hier begann, war auf die Dauer nicht rückgängig zu machen. Das Jahr 1848 war nicht nur der bleibende Anfang der deutschen Demokratiegeschichte - es war auch eine entscheidende Wendemarke auf dem Weg zum modernen, demokratischen Europa."

Allerdings begann 1848 in Deutschland nichts, was nicht umgehend wieder aufgehört hätte. Die Monarchen mochten partout nicht demokratisiert werden, und die meisten Demokraten bekehrten sich zur Nation. So kam es zu dem, was Herzog die "Rückschläge" nennt: Zwei Weltkriege waren "schwere Rückschläge" fürs vereinte Europa, Auschwitz war ein "schwerer Rückschlag" in der deutschen Demokratiegeschichte.

Das kann man so sagen, wenn man unter Gleichgesinnten ist und kein Unberufener zuhört. Und solche Sätze kann man eigentlich immer sagen: "Ohne Amerika, Frankreich, England, Belgien, die Schweiz und Polen ist die Freiheitsgeschichte des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht zu schreiben." Denn ohne Vögel läßt sich halt die Ornithologie nur schwer studieren. Der Schwindel beginnt erst mit dem Nachsatz, die Freiheitsgeschichte komme "eben auch nicht ohne Deutschland" aus - obwohl man am deutschen Beispiel allenfalls die Pathologie pervertierter Freiheitsbegriffe demonstrieren kann. Und der Schwindel setzt sich mit der ewig wiederholten Beteuerung fort, Freiheit und Einheit hätten irgendwas miteinander zu schaffen: "Die Paulskirche ist das eine große Symbol für das Streben der Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit, und erst heute können wir hinzufügen: der Fall der Berliner Mauer 1989 ist das andere. Beides sind Sternstunden deutscher Geschichte."

Zwischen diesen beiden Stunden liegen ein paar finstere Jahre und mehrere Rückschläge. Bis 1945 bedeutete deutsche Einheit vor allem die Einigkeit in der Bereitschaft zum Massenmord.

Aber vielleicht ist das alles nicht nur gelogen, sondern auch gut gemeint. Vielleicht glaubt Herzog, den Deutschen nur lange genug einreden zu müssen, sie seien Demokraten und schon immer Demokraten gewesen, damit sie endlich Demokraten werden. Nur sollte er seine pädagogischen Bemühungen dann auch an diejenigen wenden, die sie nötig haben. "Das Spiel, in dem sich linker und rechter Extremismus gegenseitig die Stichworte und Begründungen liefern, hat schon einmal eine deutsche Demokratie zerstört." Damit meint er, weil als Extremist ja schon gilt, wer an nichts glaubt, nicht einmal an "Demokratie und soziale Marktwirtschaft", mich.

Ich verbitte mir das. Weder habe ich jemals den Rechten Begründungen geliefert noch bei ihnen Stichworte bestellt. Herzogs Partei aber greift nach dem Wahlerfolg der DVU die Parole vom "kriminellen Ausländer" begierig auf. Was sie damit bewirkt, wird demnächst in dieser Zeitung nachzulesen sein, unter der Rubrik "Deutsches Haus".