Ganz weit zurücktreten

Angela Merkel kämpft um das Vertrauen der Bevölkerung in die Kernenergie und um ihren Posten

Angela Merkel sollte Bahnhofsansagerin werden: "Bitte von der Bahnsteigkante ganz ganz weit zurücktreten, der Castor fährt ein", könnte sie siebzig Mal im Jahr verkünden, wenn die deutschen AKW-Betreiber Castorbehälter mit ihren hochstrahlenden abgebrannten Brennstäben beladen und über die Schiene ins Ausland schaffen. Seit mindestens zehn Jahren sammelt der französische Atomkonzern Cogema und sein Pendant British Nuclear Fuels Strahlenmeßprotokolle über die deutschen Atommülltransporte nach Frankreich und Großbritannien. Doch im gesamten Zeitraum will keine der zuständigen deutschen Behörden - die Bundes- und Landesämter für Strahlenschutz, das Eisenbahnbundesamt oder das Bundesumweltministerium - jemals nachgefragt haben, ob irgendwelche Probleme bei Transporten ins benachbarte Ausland auftraten. Selbst in den vergangenen Monaten, als Meldungen über Sicherheitsverstöße bei Atomtransporten eingingen, will niemand mißtrauisch geworden sein.

Jetzt herrscht Aktionismus,

und Ministerin Angela Merkel beschimpft ihre alten Freunde aus den AKW-Betreiberfirmen. "Wir können uns nicht auf das Informationssystem der Industrie verlassen", ruft sie enttäuscht aus. Warum ausgerechnet jetzt die äußerliche Verseuchung der Castortransporte bekannt wurde, ist unklar. Dazu beigetragen hat vermutlich, daß mit dem Machtwechsel in Paris eine grüne Umweltministerin, Dominique Voynet, ins Kabinett von Lionel Jospin einzog und Fragen zur Sicherheit von Atomanlagen stellte.

Schon seit im Juni 1997 die französische Atomaufsichtsbehörde DSIN - statt wie früher der staatliche AKW-Betreiber Electricité de France (EdF) - mit der Kontrolle der Atomanlagen beauftragt ist, herrscht Unruhe bei den sehr verschwiegenen europäischen Atomkonzernen: Plötzlich werden Meßprotokolle angefordert und Sicherheitsnachweise angezweifelt. So forderte die DSIN Ende 1997 vom britischen Konzern British Nuclear Fuels (BNFL) ultimativ einen Falltest für einen britischen Atommüllbehälter, weil Testergebnisse seit über zehn Jahren fehlten. Dreimal versagte der Behälter des Atomkonzerns BNFL schließlich bei durchgeführten Tests im Februar und März, ein europaweiter Transportstopp für die Behälter folgte. Ministerin Merkel gab sich noch locker und sprach von einer "sogenannten multilateralen Genehmigung des Behälters". Soll heißen: Was in Großbritannien zugelassen wurde, braucht nicht mehr kontrolliert zu werden, auch wenn Sicherheitsnachweise fehlen. Allein zwischen 1995 und 1997 schickte das Bundesamt für Strahlenschutz diese Risikobehälter 45 Mal auf die Reise.

Seit Ende April wird jetzt stückchenweise bekannt, daß rund 25 Prozent aller deutschen Atomtransporte in die Wiederaufarbeitungsanlagen der französischen Cogema und britischen BNFL an einzelnen Stellen mit bis zu 13 400 Becquerel pro Quadratzentimeter strahlten - 3 000 Mal intensiver, als der Grenzwert erlaubt. Wieder hatte die französische Behörde DSIN geplaudert. Zunächst glaubten Umweltministerium und Betreiber wieder, das Problem herunterspielen zu können. Obwohl Umweltministerin Merkel nach eigenen Angaben am 24. April erstmalig von den kontaminierten Castoren erfahren hatte, ließ sie noch am 4. Mai einen Transport vom AKW Stade nach La Hague passieren, angeblich sei der Transport sorgfältig überwacht worden. Erst langsam begriff das Umweltministerium (BMU), daß sich der Skandal nicht mehr vermeiden ließ. Am 7. Mai teilt das BMU dann mit, daß 1997 "möglicherweise" bei elf Waggons und zwei Castor-Behältern erhöhte Werte aufgetreten seien, Werte bis zu 22 Becquerel (Bq) pro Quadratzentimeter. Wieder legt das DSIN nach: Am 13. Mai gibt es bekannt, in einem Fall sei eine Strahlung von 8 000 Bq gemessen worden. Am nächsten Tag muß das deutsche Umweltministerium einräumen, daß 1997 in elf Fällen eine Kontamination über dem Grenzwert von vier Bq gemessen wurden, in einem Fall gar 13 400. Erst jetzt stoppt Merkel alle Transporte nach La Hague, eine Krisensitzung wird für den 19. Mai einberufen, dort wird bekannt, daß auch Transporte ins britische Sellafield regelmäßig verseucht sind. Merkel stoppt auch die Transporte dorthin. Am nächsten Tag folgt die Aussetzung auch der inländischen Atomtransporte.

Ihre Zeitlupenreaktion trotz der Meßwerte vom April könnte die Ministerin jetzt das Amt kosten. Der Regierungspartner FDP möchte nicht in den Skandal hineingezogen werden und beantragte eine aktuelle Stunde im Bundestag. Und Generalsekretär Guido Westerwelle forderte personelle Konsequenzen - vorerst nur in den Chefetagen der Energieanbieter. Damit kann sich auch Angela Merkel anfreunden, von einem eigenen Rücktritt hält sie selbstverständlich nichts. Rücktritte würden niemandem helfen. Wichtiger sei es, das Vertrauen der Bürger in die Kernenergie zurückzugewinnen.

Eine schwere Aufgabe. Zu offensichtlich ist, wie wenig sich die AKW-Betreiber um die ihnen seit über zehn Jahren bekannte Überschreitung der Grenzwerte scherten. Zu unglaubwürdig die Beteuerung des Ministeriums, trotz der 3 000fachen Überschreitung des Grenzwerts habe es nie eine Gefahr für Polizisten, Begleitpersonal oder die Bevölkerung gegeben. Einhellig argumentierten Behörden und AKW-Betreiber in Deutschland und Frankreich, die Strahlenpartikel hätten sich nur unterhalb der Castorhaube angesammelt und außerdem sei die Dosis um ein Vielfaches geringer als die Dauerstrahlung aus dem Inneren des Castors. Falsch, erklärte am vergangene Freitag der Sprecher des Eisenbahnbundesamtes, Mark Wille, gegenüber der Berliner Zeitung. Aus den Unterlagen der französischen Atomaufsichtsbehörde, die das BMU seiner Behörde Anfang Mai zur Verfügung gestellt haben, gehe hervor, daß strahlende Partikel auch an frei zugänglichen Stellen entdeckt wurden.

Auch das zweite Argument des BMU, die Neutronen- und Gammastrahlung aus dem Inneren der Castoren sei ohnehin stärker, ist eine plumpe Irreführung. Die Strahlung läßt sich nicht vergleichen. Denn für das Betriebspersonal war die unerkannte Aufnahme der Partikel in den Körper - etwa durch Einatmen - jederzeit möglich. Im Gegensatz zur direkten Castorstrahlung, der beispielsweise Begleitpersonal für einen begrenzten Zeitraum ausgesetzt wird, setzen sich die strahlenden Teilchen in Organen wie der Lunge fest und belasten den Körper dauerhaft.

Äußerst gereizt reagierte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) auf die gebetsmühlenartigen Unbedenklichkeitserklärungen aus dem Hause Merkel. GdP-Chef Hermann Lutz forderte einen Stopp der Transporte "bis zur restlosen Aufklärung auch nur der kleinsten Details in Sachen Sicherheit und Strahlenschutz". Lutz' Sorge um seine Klientel ist nur zu verständlich. So wurden bereits bei Castortransporten Polizistinnen und bestimmte Altersgruppen als Begleitschutz ausgeschlossen, obwohl die aufgenommene Strahlendosis laut Behörden ja völlig unbedenklich sei. Jetzt wandelten sich die anfänglichen Irritationen in offenes Mißtrauen gegenüber den Behörden. GdP-Chef Lutz wurde deutlich: "Es ist eine Ungeheuerlichkeit, mit welcher Kaltschnäutzigkeit Polizisten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in Castor-Einsätze geschickt worden sind." Vergleichbares sei "nur noch in Diktaturen oder korrupten Strukturen einer Bananenrepublik denkbar". Umweltministerin Merkel, die noch im März Sicherheitsprobleme mit Castortransporten erfolgreich ignorierte, dürfte nun Probleme haben, selbst bei den polizeilichen Begleitschützern das "Vertrauen" für weitere strahlende Einsätze zurückzugewinnen.