Charles Reeve, Exilportugiese und Buchautor, im Gespräch über die Geschichte der Besiegten

»Die Nelkenrevolution war eine Bewegung des sozialen Ungehorsams«

Anlässlich des 50jährigen Jubiläums der portugiesischen Nelken­revolution sprach die »Jungle World« mit dem im Exil lebenden Charles Reeve darüber, wie die Sieger die Geschichte dieser Revolution umschrieben, und über die Ansätze von Selbstorganisation, die schließlich der Blockkonfrontation im Kalten Krieg zum Opfer fielen.
Interview Von

In einem Artikel für die Monatszeitschrift »The Brooklyn Rail« haben Sie geschrieben, dass die Ereignisse vom 25. April 1974 heutzutage missverstanden werden. Was meinen Sie damit?
Man spricht vom Ende des Salazar-­Regimes, von der Einführung einer parlamentarischen Demokratie, die zusammen mit Autobahnen und Einkaufszentren mit »Freiheit« gleichgesetzt wird. Die verschiedenen Facetten der sozialen Bewegung, die mit der Revolte einer Minderheit in der Armee begann, werden ignoriert. Die portugiesische Revolution war eine Bewegung des sozialen Ungehorsams. Die eigentliche Dynamik des 25. April 1974, die eine Militärrevolte mit Minderheitscharakter in einen Straßenaufstand in Lissabon verwandelte, entstand aus der spontanen Beteiligung der Bevölkerung. Was nach dem 25. April geschah, war in den Plänen der revoltierenden Militärs nicht vorgesehen. Die Intervention der ­Bevölkerung schuf neue Perspektiven.

Sie sagen, dass diejenigen, die die Geschichte der Nelkenrevolution geschrieben haben, die wichtige Rolle der einfachen Leute und der Berufssoldaten verleugnen. Wer hat die Geschichte geschrieben?
Der Satz von George Orwell ist, glaube ich, wohlbekannt: Die offizielle Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Aber es gibt auch eine Geschichte der Besiegten. Walter Benjamin verlieh ihr große Bedeutung. Unsere Aufgabe, wenn wir uns als Feinde dieser Welt und ihrer barbarischen Organisation betrachten, besteht darin, sie uns anzueignen. Unsere Geschichte ist die ­Geschichte der Besiegten.

Noch kein Abonnement?

Um diesen Inhalt zu lesen, wird ein Online-Abo benötigt::