Wir sind nicht mehr gefloh'n

Mit einem 68er-Kampflied auf den Lippen tauchte Oreste Scalzone, exilierter Ex-Autonomer aus Italien, plötzlich in Rom auf

Vergangene Woche in der internationalen Buchhandlung il manifesto in Rom: Rossana Rossanda, Alberto Asor Rosa, Giacomo Marramao und Mario Tronti diskutierten die Bedeutung der "Grundrisse" von Marx für die verschlungenen Wege des italienischen "operaistischen" Marxismus, die zunehmende Marginalisierung vormals zentraler Formen industrieller Lohnarbeit und den Zusammenhang der Marxschen Gesellschaftsanalyse mit dem politischen Projekt sozialer Befreiung; Marx oltre Marx, also Marx über Marx hinaus zu denken, war das Thema der Diskussion, vorgegeben durch den Titel eines jetzt beim Verlag Manifestolibri wiederaufgelegten und an jenem Abend vorgestellten Buchs von Antonio Negri. Die Debatte fand ohne ihn statt, denn er ist immer noch, wie seit seiner Rückkehr aus dem Exil in Frankreich vor beinahe einem Jahr, im römischen Gefängnis Rebibbia inhaftiert. Und obwohl ihm Mitte Mai für ein paar Tage ein erster Hafturlaub unter permanenter Polizeiaufsicht gewährt wurde, unterliegen politische Kontakte weiterhin dem Gefängnisregime. So war das Thema der Diskussion zugleich die anhaltende Gegenwart des Notstandsstaats.

Marx oltre Marx entstand im Frühjahr 1978, als Negri auf Einladung Louis Althussers an der ƒcole Normale Supérieure in Paris neun Vorlesungen über die "Grundrisse" hielt. Diese systematische Lektüre des Marxschen Texts vereinte zugleich Negris Resümee der gesellschaftlichen Kämpfe der siebziger Jahre, seine Analyse der sich abzeichnenden Veränderungen der Produktionsweise und sein sozialrevolutionäres Programm. Für Negri waren die "Grundrisse" eine "Propädeutik des Kommunismus", wie es der ehemalige PCI-Professor Asor Rosa nannte, eine wissenschaftliche Einführung in den Kommunismus. Der Text des Seminars war 1979 kaum in italienischer Sprache erschienen, als Negri am 7. April gemeinsam mit Hunderten anderen Militanten aus der Autonomia verhaftet wurde. Das Buch verschwand, wie im übrigen zahlreiche Schriften der radikalen Linken, aus Buchläden und Bibliotheken. Der Verlag Feltrinelli entschloß sich, etwaige Leserinnen und Leser vor Strafverfahren wegen des Besitzes subversiver Literatur zu schützen, und vernichtete den Rest der Auflage. Der Notstand war als institutionelle Form weithin anerkannt.

Der lange Atem des Notstandsstaats zeigt sich nun unter anderem auch darin, daß die Forderung nach einer Amnestie für die politischen Gefangenen sowie nach der Möglichkeit für alle Exilierten, in Freiheit nach Italien zurückkehren zu können, immer wieder desartikuliert und kleingearbeitet wird. Eine wesentliche Voraussetzung dieses Vorgangs ist heute die Vorherrschaft einer gleichermaßen ethisch-moralischen und juristischen Konstruktion, die sich in den ideologischen wie den repressiven Staatsapparaten reproduziert und die öffentliche Debatte dominiert.

Enrico Porsia, der bis heute im politischen Exil in Paris lebt, beschrieb das kürzlich in einem Beitrag für die linksliberale französische Tageszeitung Libération als das "Dispositiv des pentimento": Bereits daran, die Kronzeugen pentiti, das heißt "Reuige" zu nennen, lassen sich die Probleme ermessen, politische Dimensionen zu artikulieren. Die vorgezeichneten Bahnen von Reue und Verrat, haltlosen Anschuldigungen und unmöglichen Verteidigungen, die Fragen nach Schuld und Unschuld strukturieren in jenem Dispositiv tendenziell jede mögliche Äußerung. Die individualisierende Isolation einzelner "Fälle" tut ein übriges.

Ein anschauliches Beispiel dieser Praxis bietet etwa die vorherrschende Thematisierung der "Fälle" Sofri und Negri: Diese funktioniert in der Regel als Entgegensetzung von Gut und Böse, als der Kontrast zwischen dem unschuldigem Opfer eines Justizskandals (idealtypisch Sofri) und dem hinterlistigen Verschwörer gegen die staatliche Ordnung. So berichtete Negri von einer Veranstaltung, noch in Paris, auf der das Buch von Carlo Ginzburg über Adriano Sofri vorgestellt wurde. In den Verlauf der Diskussion versuchte er zu intervenieren, indem er die Amnestie-lnitiative unterstützte, die damals von der Gruppe Exilierter ausging, die sich "Associazione XXI Secolo" nannte. Daraufhin gab man ihm lediglich zu verstehen, daß Sofri unschuldig sei, er hingegen schuldig. Das Beispiel ist typisch und doch kontingent, das Dispositiv bringt analoge Verbindungen hervor, bei der großen Zahl von Betroffenen lassen sich genügend viele Schuldig-Unschuldig-Kombinationen finden. Die Wirksamkeit des Dispositivs erzeugt die Unmöglichkeit, politische Zusammenhänge zu artikulieren, historische Veränderungen oder soziale Kräfteverhältnisse zu begreifen.

Die Forderung nach Amnestie kann nur als allgemeine dem Funktionieren des Notstandsdispositivs entgehen. Porsia zustimmend, wies Negri in einem Mitte Mai ebenfalls in Libération veröffentlichten Beitrag darauf hin, daß das Insistieren auf Individuen drohe, die Kampagne zu neutralisieren, und daß es vielmehr darum gehe, die Gesamtheit all derer anzusprechen, die die gesellschaftlichen und politischen Kämpfe der sechziger und siebziger Jahre geführt haben. Nur darin könnte sich der emanzipatorische Gehalt der Kampagne entwickeln. Negri betonte die Aufgabe, die die Koordination der unterschiedlichen Initiativen der italienischen außerinstitutionellen Linken zur Befreiung der politischen Gefangenen, "rete sprigionare", sich zum Motto wählte: Die siebziger Jahre befreien! Es geht nicht nur um die Öffnung der Gefängnisse, obwohl diese die Voraussetzung bleibt. Hinzu kommt die notwendige Kritik der Politik, die Befreiung der sozialen Bewegungen und Kämpfe der siebziger Jahre von ihrer Aneignung durch den Staat und die heutige Linke der herrschenden Klasse.

Eine weitere strategische Bedingung zur Beendigung des Notstands legte Oreste Scalzone, wie Negri Mitbegründer von der außerinstitutionellen Organisation Potere Operaio (Arbeitermacht) und später prominenter Intellektueller der Autonomia, offen: eine bewegliche und überraschende, sich nicht identifizierende Praxis. Als Slogan wählte er sich den Refrain eines populären Kampflieds der 68er-Bewegung, "Non siam scappati piu" (Wir sind nicht mehr gefloh'n), das sich auf die sogenannte Schlacht vom Valle Giulia bezieht. Damals, im März 1968, hatten die Studenten der besetzten Universität von Rom den Polizeieinheiten eine mehrstündige Straßenschlacht geliefert. Zum dreißigsten Jahrestag dieses Ereignisses fuhr Scalzone aus seinem Pariser Exil unerkannt nach Rom, sprach auf einer öffentlichen Versammlung an der Architekturfakultät und verschwand wieder. Zur gleichen Zeit erreichte er durch einen gemeinsam mit anderen Exilierten geschriebenen Appell an den französischen Premier Lionel Jospin sowie an Präsident Jacques Chirac die Garantie, daß, ungeachtet des Schengener Abkommens, der Mitte der achtziger Jahre vom damaligen Präsidenten Fran ç ois Mitterrand gewährte Aufenthaltsstatus für die italienischen politischen Flüchtlinge nicht angetastet würde.

Eine Amnestie für die politischen Gefangenen hatte Scalzone schon 1978, zur Zeit der Entführung Aldo Moros, gefordert und war deshalb von Genossen für einen Agent provocateur, einen "Contra" oder schlicht für verrückt gehalten worden. Und sein jüngst hartnäckig vorgetragener Vorschlag, fünfzigtausend Unterschriften für ein Amnestiegesetz auf der Grundlage eines Volksbegehrens zu sammeln, fertigten die meisten als eine Art Träumerei ab. Doch: "Scharenweise haben unterschiedliche Politiker immer wieder das Wunder einer Amnestie kurz aufblitzen lassen. Und wie Hypnotisierte haben die Genossinnen und Genossen, jedenfalls zum größten Teil, darauf gewartet, daß irgend jemand es vollbringen würde", kommentierte Scalzone Mitte April. Wird mit der Organisierung nicht angefangen, die eine Amnestie einfordern würde und könnte, wird es bei kleinen blitzenden Wunderkerzen bleiben.