Futter für die Haie

Seit sich Deutschland gegen Flüchtlinge zu Lande und zur Luft abschottet, versuchen immer mehr, auf dem Seeweg einzureisen

Nur ein Schulterzucken hat der Erste Offizier für Prince Jackson übrig. "Der hat halt geglaubt, er hat es geschafft", sagt er gleichgültig. "Jetzt muß er zurück. Kein Wunder, daß es ihm schlecht geht." Und wendet sich demonstrativ wieder seiner Seekarte zu.

Seit zwölf Jahren fährt der Seemann die Route nach Westafrika. Da ist für ihn längst Routine, was Prince Jackson und mehrere hundert Afrikaner jährlich für den Traum ihres Lebens halten - und was für die meisten zum Alptraum wird: Eine heimliche Überfahrt an Bord. In Kühlräumen, Frachtcontainern und hinter Bananenkisten versteckt, hoffen sie, als "Blinde Passagiere" Europa zu erreichen.

Romantisch ist das Schicksal der Blinden Passagiere, auch "Stowaways" genannt, in Seefahrtsromanen, doch die Realität sieht anders aus. Jackson hätte es fast geschafft. Eine Woche dauerte die Reise der MS Osnabrück von Abidjan in C(tm)te d'Ivoire bis zum Zielhafen Hamburg. Versteckt zwischen Holzladungen in einem Frachtcontainer, versorgt mit einer Flasche Wasser und ein paar Keksen, hat Jackson sie überlebt. Beim Öffnen des Containers im Hamburger Hafen wurde er entdeckt - in letzter Sekunde. Schwer unterkühlt mußte er ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Nun sitzt Jackson in einer Zelle der Wasserschutzpolizei. Wenige Stunden später soll die "Münster" auslaufen, ein Schiff, das derselben Reederei gehört wie die "Osnabrück". Noch wird das Schiff mit Containern beladen. Sobald der Frachter zum Auslaufen bereit ist, soll die Wasserschutzpolizei den 15jährigen Jungen an Bord bringen. Er sei wieder gesund, habe ein Arzt attestiert. Jackson sagt dagegen, er habe keinen Arzt zu Gesicht bekommen. Der Ausländerbehörde reicht das Attest trotzdem, um ihn umgehend abzuschieben. Außer dem T-Shirt, in dem er auf der Überfahrt fast erfroren wäre, kriegt er keine weitere Kleidung.

Daß Jackson es schließlich in letzter Sekunde schafft, aus seiner Haft heraus einen Asylantrag zu stellen und damit die Abschiebung für diesen Freitag zu verhindern, macht ihn zum Sonderfall unter den Blinden Passagieren, die Europa erreichen. Rund einhundert kommen allein im Hamburger Hafen jährlich an. Die Zahlen steigen, seit wegen der sogannten Drittstaatenregelung der Landweg für Flüchtlinge praktisch versperrt ist und mit Hilfe des Flughafenverfahrens auch diejenigen abgehalten werden, die auf dem Luftweg einreisen wollen. Der Anteil derer, die Asyl beantragen, liegt bei nicht mehr als acht bis zehn Prozent. Denn diese Chance hat nur, wer schon vor der Überfahrt von seinen rechtlichen Möglichkeiten weiß. Anderenfalls werden nach der Entdeckung schon an Bord die Weichen dafür gestellt, daß ein Stowaway das Schiff nicht in die Freiheit, sondern nur in die Gefängniszelle verlassen kann. Über Funk alarmiert, steht im Hafen die Wasserschutzpolizei zum Empfang bereit. Die erläßt umgehend einen sogenannten Zurückweisungsbeschluß. Juristisch gilt der Blinde Passagier damit als nicht in die Bundesrepublik eingereist. Er wird im Gefängnis verwahrt, bis das nächste Schifff ins Herkunftsland ausläuft.

Jackson wurde vor dem Abschiebeversuch wie Frachtgut von einer Zelle zur anderen verbracht: Vom Schiff kurz ins Krankenhaus, von dort in die Untersuchungshaftanstalt und schließlich ins Abschiebegefängnis Glasmoor. Schon seit zwei Wochen ist der Liberianer in Hamburg, als ihn dort ein Mitgefangener darüber aufklärt, daß er sich in Deutschland befindet. Er selbst hatte geglaubt, in England zu sein.

Die Reedereien haben keinerlei Interesse daran, Stowaways zu unterstützen, die sie auf ihren Schiffen entdecken. In vielen europäischen Ländern, etwa in Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich, werden den Schiffseignern sogar Bußgelder dafür auferlegt, daß sich jemand auf ihrem Schiff eingeschlichen hat. In Deutschland sind sie zum Rücktransport verpflichtet - und zur Übernahme sämtlicher Kosten, die bis dahin entstehen: Für die Unterbringung, die Verpflegung, die Verwaltung. Unbekannt ist, wieviele Stowaways von den Schiffsbesatzungen im Hafen gegen das Versprechen laufengelassen werden, niemandem den Namen des Schiffes zu verraten, mit dem sie eingereist sind. Bekannt ist hingegen, daß sich viele Schiffseigner, dem Kostendruck entsprechend, die Abschottungsinteressen der reichen Länder zueigen machen.

Manche Schiffsbesatzung schreckt auch nicht davor zurück, die teuren Passagiere zu ermorden. 1992 warfen die Männer des dänischen Frachters "Karen Clipper" einen Westafrikaner, der sich an Bord versteckt hatte, 25 Seemeilen vor der Küste Sierra Leones ins von Haien wimmelnde Meer. Im Indischen Ozean retteten Fischer 1985 vier junge Männer aus Tansania, die von einem Frachtschiff aus Südkorea über Bord geworfen worden waren. Vorher hatten schon mehrere andere Handelsschiffe die auf offenem Meer Treibenden ignoriert.

Gegen das "Risiko Blinder Passagier" sichern sich die Reder bei Unternehmen ab, die weltweit nicht allein mit Geld, sondern auch mit Pässen einspringen, falls die Rückfahrt eines Stowaway an Einreisepapieren zu scheitern droht - ein staatenloser Vietnamese soll zwei Jahre auf einem Schiff mitgefahren sein, weil kein Land bereit war, ihn aufzunehmen. Die Versicherungsunternehmen sind zusammengeschlossen in einem Verband, dem "P & I Club", der weltweit über Kontakte verfügt - besonders in westafrikanischen Ländern, aus denen ein Großteil der Blinden Passagiere einreist. Bekannt wurde das Schicksal des Liberianers Jackson Andrews, der 1996 als Stowaway auf der "Constantinos D." nach Hamburg kam. Er wurde mit einem Paßersatzpapier nach Ghana abgeschoben, nachdem das private Versicherungsunternehmen Pandi Service eingeschaltet worden war. Die Sekretärin des ghanaischen Botschafters deutete damals an: "Das Auswärtige Amt hat Druck auf uns ausgeübt, daß wir das tun."

Vor zwei Jahren wollte sich auch das Bremer Innenministerium die Dienste der Firma Pandi zunutze machen. Das Ministerium plante eine Art "Abschiebung nach Afrika": Die Firma sollte Flüchtlinge ohne Papiere in ein beliebiges afrikanisches Land ausfliegen. Erst vor Ort sollten die MitarbeiterInnen von Pandi Services sich auf die Suche nach Papieren und einem Land machen, das zur Aufnahme bereit wäre. Dieses Projekt scheiterte zwar an der Intervention der Bremer Ausländerbeauftragten Dagmar Lill. Es gibt jedoch Hinweise darauf, daß die "Abschiebung nach Afrika" längst Realität ist. Prince Jackson ist Liberianer. Eingereist ist er über C(tm)te d'Ivoire, und dorthin fuhr auch die "Münster". Dennoch, das verriet der Kapitän vor seiner Abfahrt, sollte Jackson bereits in der senegalesischen Hauptstadt Dakar von Bord. Dort, so der Seemann, "wird er vom P & I Club abgeholt. Die kümmern sich dann um ihn."