100 Jahre Hustensaft

1898 ließ sich Bayer das Medikament Heroin patentieren
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Ein Jahrhundert genau ist es her, daß sich in Leverkusen ein Mitarbeiter eines Pharma-Unternehmens auf den Weg ins Patentamt machte, um ein neues Hustenmittel anzumelden. Die Rezeptur wurde bald äußerst beliebt. Ärzte verschrieben es nicht nur gegen Atembeschwerden, sondern auch gegen Lungenerkrankung, Herzkranzgefäßverengung, Herzschwäche, Magenkrebs, gelegentlich sogar gegen Fieber, Bluthochdruck und Diabetes. Die Wirkung schien beeindruckend, die Nebenwirkungen waren gering wie selten bei einem Medikament: Lediglich Verstopfung und eine leichte sexuelle Lustlosigkeit wurden beschrieben.

Mit den Jahren wurden Stimmen laut, die vor einer Abhängigkeit warnten - ein Effekt, der bei Arzneimitteln wirklich nichts Ungewöhnliches ist. Kein Wunder also, daß das Geschäft mit dem neuen Hustensaft boomte. Bereits ein Jahr nach seiner Patentierung lieferten die Bayer-Werke ihr neues Produkt in 23 Länder, bis 1913 betrug die Jahresproduktion eine Tonne. Weil Bayer nur den Namen, nicht jedoch das Verfahren zur Herstellung des Medikaments patentieren ließ, stellten immer mehr Firmen Arzneimittel mit demselben Wirkstoff her.

Den heilsamen Hustensaft hatte die Firma Bayer auf den gesetzlich geschützten Namen Heroin anmelden lassen, "die Heldin" - heute als todbringende Droge, als Synonym für Verderben und Verelendung bekannt. Und das, obwohl sich an der chemischen Formel des Diacetylmorphin (Heroin) bis heute nichts geändert hat. Nicht das Heroin, das nach Aussagen der KonsumentInnen eine beeindruckende Rauschwirkung haben soll, ist gefährlicher geworden, nur die Bedingungen des Konsums haben sich - bedingt durch Verbot und Kriminalisierung - verändert.

Sie allein sind die Ursache dafür, daß jedes Jahr vier Prozent der HeroinkonsumentInnen sterben, durch unsauberes Spritzbesteck werden Infektionen wie HIV übertragen, und giftig wird Heroin erst durch die Schwarzmarkt-bedingte Streckung mit Talkin, Strychnin und Chinin. Zum "Goldenen Schuß" - Tod durch Überdosierung - kommt es meist nur, weil die KonsumentInnen durch die unkontrollierbare Streckung die Dosierung des Heroins nicht kennen.

Ebenso wie die negativen gesundheitlichen sind auch die gesellschaftlichen Auswirkungen ausschließlich Folge des Heroinverbots. Die überteuerten Schwarzmarktpreise zwingen die KonsumentInnen, zumal, wenn sie abhängig geworden sind, zu dem, was man Beschaffungskriminalität nennt. Obdachlosigkeit, soziale Verelendung sind die weiteren Folgen der Illegalisierung des Hustensafts, auf dessen 100. Geburtstag man am 26. Juni 1998 anstoßen kann.

Menschen fangen - in der Regel - nicht an, Heroin zu nehmen, weil sie verzweifelt sind und keinen Ausweg mehr wissen, sondern weil die Wirkung des Heroins offenbar faszinierend ist.Heroin wird daher trotz aller Verbote noch viele runde Jubiläen erleben - Robert Böhm nicht mehr. Der "1. Vorsitzende der deutschen Junkies" (taz), Sprecher der Selbsthilfe-Initiative JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte), ist am 24. April im Alter von 44 Jahren gestorben. Nicht am Heroin; wohl aber an den Folgen der Kriminalisierung. Böhm wurde wie jährlich rund 2 000 Junkies in Deutschland Opfer der herrschenden Drogenpolitik. Er starb zwölf Jahre nach der HIV-Diagnose an den Folgen von Aids. Infiziert hatte er sich über eine gebrauchte Spritze. 15 Jahre Heroinkonsum, fünf Jahre Knast, sieben Jahre Methadon-Substitution - Böhm hat die klassische Junkie-Karriere gemacht.

Dabei fing alles so gut an: "Ich hatte durch Heroin beruflich viel Erfolg. Ich wurde sehr selbstsicher. Ich war immer auf so einer Wolke, fühlte mich sehr stark." Dieser Satz von Böhm klingt mir noch in den Ohren. Als ich ihn vor nicht einmal einem Jahr zu einem Interview traf, schwärmte er vom Heroin. Es habe ihn ruhiger und umgänglicher gemacht. "Ich habe alle Drogen ausprobiert und nichts hat mich so angemacht wie Heroin", hat er gesagt. Und daß er sofort wieder Heroin nehmen würde, "wenn es erlaubt wäre, zugänglich und finanzierbar". Er hat geschwärmt - trotz all der Jahre hinter Gittern, schmerzhafter Entziehungskuren, trotz HIV-Infektion.

Seine Verelendung begann nach der Inhaftierung, als der Job weg war und der Teufelskreis aus Abhängigkeit und Beschaffungsdruck begann. Erst das Methadon-Programm holte ihn da heraus. "Die Zwangstherapien und Leidensdruckmodelle, Verfolgung und Inhaftierung, sowie das jahrzehntelange Festhalten am Abstinenzdogma haben Tausenden DrogengebraucherInnen den Tod gebracht oder soziale und gesundheitliche Verelendung", schrieb Böhm in einem Beitrag für die Jungle World im August letzten Jahres. Nun mahnt auch sein Tod eine rigorose Wende in der Drogenpolitik an: Re-Legalisierung von Heroin und bedingungslose Hilfe für die Abhängigen!