Der CSD marschiert durchs Brandenburger Tor

Me-too-ism: Wir sind dabei

Wenn man nur noch konstruktive Forderungen hat, weil an der Gesellschaft, in der man lebt, kaum noch etwas auszusetzen ist; wenn die Forderungen sich darauf beschränken, die Beziehungen, in denen man lebt, staatlich sanktionieren zu lassen; wenn man glaubt, diese Forderungen würden nur deswegen nicht erfüllt, weil die anderen denken, man habe sich nicht zur Genüge integriert, weshalb man keine Gelegenheit ausläßt, zu demonstrieren, daß es sich bei dieser Annahme um einen Irrtum handelt, dann geht man lesbisch, schwul, bi und/oder transsexuell oder solidarisch auf den CSD und marschiert, wie schon im vergangenen Jahr, mit Regenbogenfahnen durchs Brandenburger Tor.

Damit will man nicht etwa den Vorschlag unterstützen, dieses nationale Symbol zu schreddern, um das zu Staub zermahlene Tor zum Holocaust-Mahnmal für alle Opfer des Nationalsozialismus zu erklären, zu denen unzweifelhaft auch jene gehörten, die heute mit dem Wort queer zusammengefaßt werden.

Offensichtlich hat sich auch bei den Schwulen und Lesben herumgesprochen, daß die Aufnahme in die wiedererstarkte Nation ihren Preis hat. Die Sorte integraler Emanzipation, wie sie sich am 27. Juni in Berlin präsentiert und in den USA mit dem treffenden Ausdruck me-too-ism (Ich-Auch-Ismus) beschrieben wird, will auch nichts geschenkt haben: Obwohl noch nicht einmal die klasssische Forderung nach "gleichen Rechten" erfüllt ist, erfordert die Integrationslogik die vorauseilende Übernahme nationaler Verpflichtungen - in den USA beispielhaft vorgeführt an der Forderung, Schwule und Lesben in die Army zu integrieren.

In Deutschland hat der me-too-ism von Schwulen und Lesben einen noch übleren Beigeschmack. Die nationale Symbolik, auf die man sich bezieht, wurde von den Nazis begründet: Ab 1939 durften Juden und Zigeuner das Brandenburger Tor nicht mehr passieren. Nach 1945 wurde das Symbol der Teilung als - mittlerweile abgebüßte - Strafe für Auschwitz empfunden. Der kollektive Marsch durchs Brandenburger Tor demonstriert, selbstverständlich unaufgefordert, Zugehörigkeit und stiftet im wahrsten Sinne des Wortes Einheit. Me-too-ism.

Eine Einheit, der sich offensichtlich kaum noch jemand entziehen will oder kann: Gab es in den vergangenen Jahren noch Kritik, wird in diesem Jahr in der Berliner Siegessäule die "ungewohnte Einheit" und die "konstruktive Diskussionskultur" der unterschiedlichen Gruppierungen im Vorbereitungskreis gefeiert. Das Schwulenreferat an der Berliner Freien Universität kommentiert in seinem Info die Marschroute mit einem "Was soll's?" und freut sich darüber, daß es gelang, die Forderung nach sozialer Grundsicherung "1 500 plus Miete für alle" in den Wunschkatalog der CSDler aufzunehmen. Was soll's - wer sich in Deutschland die soziale Frage auf die Fahnen schreibt, dem bleibt bekanntlich nur der Gang durchs Brandenburger Tor.

Haß auf Homosexuelle verflüchtigt sich jedoch nicht, nur, weil man man ihn beim diesjährigen CSD einfach nicht mehr zur Kenntnis nehmen will - weder die Angriffe auf Homosexuelle hierzulande noch die Unterdrückung in allen Teilen der Welt -, und zuallerletzt wird die mit nationaler Symbolik aufgepeppte Feierstunde ostdeutsche Straßen für Schwule und Lesben sicherer machen.