42. Die Liebenden und die Toten

Fortgesetze Erzählungen

Von Mai bis Oktober jobbt Modder bei einem Busunternehmen, weil man sich als Reiseleiter angeblich nicht retten kann vor Angeboten jeden Alters. Besonders dankbar, heißt es, sind Einbeinige und kinderreiche Mütter, die alleine nach Rimini dürfen, weil der Vater in seiner Würstchenbude Fritten schnitzen muß.

Die Bezahlung ist deshalb unerheblich, pro Tag fünfzehn Mark plus freie Station, entscheidend ist der Erlebniswert der Arbeit: Sonntag, Montag runter, drei Tage auf dem Teutonengrill, ein Tagesausflug nach Venedig (mit Besichtigung einer Glasmanufaktur in Murano, 5 Prozent für den Capogruppo), Freitag, Samstag wieder rauf, von Mannheim bis Frankfurt im Stau (die Autobahn stammt noch von Adoof und ist auf die Federung eines Panzers eingerichtet: ssst-bummm, ssst-bumbumm - Busse machen Synkopen).

Modder moderiert souverän. Wenn er "Pastascuita" sagt, denkt kein Mensch an Nudeln. Er sammelt die Kotztüten ein (von Rosenheim bis Rimini Landstraße, eng und kurvenreich), hantiert mit dem Mikro wie ein Talkmaster ("Wieviele Italiener gehen auf eine deutsche Urlauberin"), gibt Sprachunterricht ("Kratzdich, Tante"), verweist auf Sehenswürdigkeiten ("Hinten sehen Sie jetzt den Po") und verkauft Sonderfahrten (möglichst ohne Quittung).

Sang Modugno schon "Fliegen oho, singen ohohoho"? Es gibt jedenfalls noch Kapellen, die auf palmigen Terrassen nel blu dipinto di blu und nachts unter sternklaren Himmeln englische Walzer spielen, die Papagalli tragen noch weiße Jacketts, die Urlauberinnen haben das Cocktailkleid dabei, und wenn sie in Frankfurt wieder aus dem Bus stolpern, tragen sie alle einen Strohhut auf dem Kopf und eine Korbflasche in der Hand, die bald als Kerzenhalter dient (fünf Prozent für den Capogruppo).

Der Sommer ist sehr heiß, was angeblich von den vielen oberirdischen Wasserstoffbomben kommt, der Bundestag beschließt deshalb Maßnahmen gegen die wachsende Luftverunreinigung, überall hängen Plakate "Die SPD ist der Untergang Deutschlands", und zu Weihnachten kommt nicht nur der erste tragbare Fernseher auf den Markt, sondern auch Arno Schmidts "Die Gelehrtenrepublik", die von den genetischen Folgen der "Bombe" handelt.

Die Stelle, wo Schmidt die vor Glück schnarchende Zentaurin entjungfert, "bis ich anfing, kreuzlahm zu werden", kann Modder fast auswendig: "Sie röchelte süß, ihr Getreidemund schmeckte nach Grassamen, Spelt und Grannen fielen mir ein. Mähdrescher?"

Auf einer dieser Fahrten sitzt ein Mädel im Bus, eine Mischung aus Mops und Trampel, etwa 18 Jahre alt, mit Schnittlauchhaaren und blauen Augen. sie trägt ein durchsichtiges Kleid aus rosa Organza mit einer Schleife im Rücken, heißt Ophelia, reist mit ihrer Mutter und ist ständig beleidigt. Jedenfalls im Gesicht.

Ihre Mutter, eine gewisse Gertrud Sommer, im weißen Leinenanzug, ist dagegen ein apartes, charmantes Wesen, auf dessen madonnenhaftem Antlitz stets der Ausdruck einer unbegründeten Heiterkeit liegt. Sie umgibt Modder mit Trinkgroschen, Komplimenten und Aufmerksamkeiten und lädt ihn an ihren Tisch ein. Also nicht die üblichen Torten und Nelken.

Modder läßt sich umgarnen nach dem casanovischen Motto: "Willst du die Tochter verführen, schmeichle der Mutter." Er fühlt sich unwiderstehlich angezogen von der beleidigten Leberwurst mit dem Backpfeifengesicht. Es ist erstaunlich. Sie hat kein zweites Gesicht, nur dieses eine, und auch ihr Wortschatz ist seltsam reduziert. "Willst du noch etwas Käse, Liebling?" - "Ich weiß nicht, Mama." - "Möchtest du schwimmen gehn, Kindchen?" - "Ist mir egal." - "Gefällt's dir hier?" - "Mhm, ja, es geht so."

Nun gut, so geht das zwei Tage. Am dritten Tag nach dem Mittagessen liegt Ophelia in Modders Bett, ohne Verabredung oder Vorwarnung. Kein vielsagendes Lächeln im Vorfeld. Sie liegt auf der Seite, hat den Kopf in der Hand und sieht ihn beleidigt an. "Wo warst du so lange?" fragt sie.

So viel hat sie bisher noch nie mit ihm geredet. Er stottert rum, sie unterbricht ihn: "Zieh dich aus und küß mich." Sie sagt es, wie man einem Knecht befiehlt, die Stalltür aufzumachen, und ihre Brüste liegen flach auf ihrer Brust wie zwei weiße Kuhfladen. Ihre Haut ist rötlich, ihr tadelloses Gebiß glitzert, und Modder sieht, daß sie fast keine Augenbrauen hat.

Er tut wie ihm befohlen, und schon nach den ersten gierigen Küssen begreift er: Hier wird mehr von ihm erwartet als das in Studentenkreisen übliche Necking und Petting. Hier geht's hart zur Sache. Sie stößt ihm die Zunge tief in den Rachen, grunzt wie Schmidts Zentaurin, ihre Hände verkrallen sich in seinen Rücken, nur ihre Schenkel sind noch geschlossen. Da ist kein Durchkommen.

In einer kurzen Atempause sagt sie trocken: "Du kannst ihn mir zwischen die Beine stecken, aber nicht in die Muschi, sonst sag' ich's meiner Mutter." Stumm onaniert Modder zwischen ihren fetten Schenkeln, die so weich sind wie Kuheuter. Er zählt die Liegestützen, der Schweiß rinnt in Strömen, denn es ist unerträglich heiß in diesem Sommer, 21, 22, 23, auch sie ist naß wie ein abgebrühtes Schwein, und jedes Mal, wenn ihre Leiber aufeinander treffen, schlotzt es.

Sie flüstert seitwärts: "Sag was. Sag was, du Liebling. Woran denkst du?" Er denkt nicht, er stöhnt. "Ich liebe dich." - "Sag, wie du mich liebst!" - "Ich liebe dich." - "Du sollst sagen wie!"

Sie hat die Augen geöffnet, schaut ihn feindselig an und klopft mit den Händen auf seine Brust. "Wie liebst du mich?" Er macht weiter Liegestütze und beginnt zu stammeln:

"Gehn dir im Dämmerlichte, wenn in der Sommernacht für selige Gesichte dein liebend Auge wacht ..." Ihr Gesicht entspannt sich, er stammelt weiter: "... wird da, wo sich im Schönen das Göttliche verhüllt, noch oft das tiefe Sehnen der Liebe dir gestillt ..." Sie fragt ungläubig: "Was sagst du da?" Er rezitiert jetzt fester, immer auf und nieder: "... so such' im stillsten Tale den blütenreichsten Hain, und gieß' aus goldner Schale den frohen Opferwein!" Sie ruft: "Sag mal, spinnst du?" Er deklamiert jetzt, fast triumphal: "... noch lächelt unveraltet des Herzens Frühling dir, der Gott der Jugend waltet noch über dir und mir."

Sie beginnt zu lachen, schlägt sich die Hand vor den Mund und lacht, zieht die Beine an den Leib, fiept wie eine Maus, ihre Oberschenkel öffnen sich, er ist bei 36, und auf einmal flutscht sein Glied in ihre Spalte, er spürt ihre Nässe, und weiß, er ist drin, zum ersten Mal richtig drin in einer Frau. Er hebt den Leib zu neuem Stoß, da, plötzlich, wird er zur Seite geschubst, eine kräftige Bewegung wirft ihn zur Seite, und sie rollt sich herum und hüpft über ihn hinweg aus dem Bett, und er begreift nicht, was passiert ist.

Sie steht vor seinem Bett und ist schon dabei, sich anzuziehn, und zum ersten Mal sieht sie nicht beleidigt aus. Sie sieht aus, als wäre ihr Schreckliches widerfahren. Hektisch nestelt sie am Haken und schaut sichernd zur Tür. "Was ist los, was hast du?" - "Nichts." - "Warum willst du schon gehen?" Sie verstaut die Brüste und sagt böse: "Du hast mich vergewaltigt. Weißt du das nicht?"

Dann ist sie weg. Beim Abendessen bittet Frau Gertrud ihn nicht an den Tisch. Sie sieht beleidigt aus, sehr beleidigt, und Modder wagt nicht, sie zu grüßen. Ophelia dagegen schaut einfach weg und schiebt sich eine dicke Rolle Spaghetti in den Mund. Modder spürt, sie hat ihrer Mutter alles gebeichtet. In Frankfurt läßt die Alte ihn erstmal verhaften.

Wie die Geschichte ausgeht, hab' ich vergessen. Ich vermute, Modder hat ihr geschrieben, das tat er meistens, wenn ihm etwas peinlich war und er nicht wußte, was ihm peinlich war. Ophelia zum Beispiel: Hatte sie sich über das Gedicht geärgert oder seinen Ausrutscher?

Ich weiß es auch nicht. Es gibt einen Brief Ophelias an Modder. Darin schreibt sie, sie könne ihn nicht heiraten, sie sei verlobt mit einem Amerikaner, erwarte ein Kind von jenem und werde schon bald mitsamt ihrer Mutter in die USA auswandern, wo im übrigen auch ihr Vater wohne, der in einem Hotel in Arizona arbeite.

Das ist keine so gute Ausrede. Ich glaube, sie verübelt ihm doch das Gedicht. Oder würden Sie eine Frau heiraten, die beim Beischlaf Gedichte vorträgt?

Nächste Woche: "Der Tropfen am Eimer"