Die Normalität des CSD

Wieso sollten Schwule als Schwule und Lesben als Lesben links sein? Eine Antwort auf Tjark Kunstreich und Eike Stedefeldt

Schade, die Kritik am politisch angepaßten und kommerzialisierten Christopher Street Day auf den Themenseiten der Jungle World ist ähnlich rituell wie der Gegenstand der Kritik. Same procedure as every year. Wenn die antinationale Linke es nicht fertigbringt, die gewiß reizvolle Vorstellung in die Tat umzusetzen, das Brandenburger Tor zu pulverisieren, warum sollen dann Schwule und Lesben an diesem Maßstab gemessen werden?

Weil zu den NS-Opfern, wie Tjark Kunstreich schreibt, "unzweifelhaft auch jene gehörten, die heute mit dem Wort queer zusammengefaßt werden"? Ich bin ganz froh darüber, daß andere Gruppen von NS-Opfern m. W. bisher nicht an solch einem Anspruch gemessen wurden. Warum dann die Schwulen und Lesben?

Insgeheim scheinen - bei allen Unterschieden der Argumentation - Kunstreich und Eike Stedefeldt immer noch vom revolutionären Kollektivsubjekt Homosexuelle zu träumen. Einst, in der kulturrevolutionären Aufbruchsphase, sah Guy Hocquenghem im désir homosexuel ein größeres Freiheitspotential als im heterosexuellen Verlangen. Integration und Anpassung wären dann Abfall vom revolutionären Wesen der Bewegung. Doch waren solche identitätspolitisch begründeten Ansprüche und Hoffnungen je berechtigt? Wieso sollten Schwule als Schwule und Lesben als Lesben zum revolutionären Beruf bestimmt sein? Statt - wie Individuen aller anderen irgendwie herausfallend klassifizierbaren Menschengruppen auch - ein Recht darauf zu haben, genauso anpaßlerisch, kompromißbereit, korrumpierbar, blöd, mies, egoistisch und gemein zu sein wie die gesellschaftliche Mehrheit, ohne daß ihnen dies ressentimental als Teil eines besonderen Kollektivs angekreidet würde ?

Stedefeldt vermag auch in seinem sehr lesenswerten Buch "Schwule Macht" (Jungle World, Nr. 13/98), aus dem sich seine aktuelle CSD-Schelte speist, nicht plausibel zu machen, warum Schwule als Schwule "in einer übergreifenden, antikapitalistisch geprägten Sammlungsbewegung aufgeh(en)" sollen. Von selbst versteht sich das nicht (nicht einmal das Verb "aufgehen" ist eindeutig), und was unter den Tickets "Linke" und "Antikapitalismus" durch die Weltgeschichte lief, hat nicht eben emsig daran gearbeitet, Homosexuellen als Partner im emanzipatorischen Kampf beiseite zu stehen.

Sind die Kampfbegriffe linker Kulturkonservativer von der "bürgerlichen Dekadenz" und der "Degeneration", die sich mit den Parolen der Rechten deckten, schon vergessen? Spielte nicht Schwulenklatschen in Treptow eine gewisse Rolle in der Gründungsgeschichte dieser Zeitung? Und wenn gälte: "Der Kommunismus kommt, prima, und alle werden heterosexuell", wie die Jungle World (Nr. 45/97) die Rezension zu Walter G. Neumanns "Kapital"-Kommentar ironisch überschrieb, dann müßte sich eine Gay Pride Parade notwendigerweise als anti-antikapitalistisch verstehen.

Die Artikulation der linken Kritik am CSD macht die kulturtheoretischen Defizite derjenigen Linken deutlich, die Kultur im Bahamas-Dreieck aus Wert, Geld und Fetisch verschwinden lassen. Die spezifisch kulturelle Logik der Kämpfe um Norm und Normalität von Homosexualität, kann mit dem Standardinstrumentarium des Marxismus nicht erfaßt werden. Auch ist nicht einzusehen, daß sich - wie Stedefeldt in "Schwule Macht" vorschlägt - die theoretische "Rückbesinnung" auf die siebziger und frühen achtziger Jahre beschränken soll.

Theorie und Analyse müßten Aufschluß geben über Bewegungsstreit und teilweise widersprechende empirische Befunde: auf der einen Seite homosexuelle Akzeptanzgewinne und die Szeneetablierung und -normalisierung, erschreckenderweise - wie Stedefeldt materialreich beschreibt - zunehmend im Gleichschritt mit dem Rechtsruck der Gesamtgesellschaft; auf der anderen Seite ein gegen Ästhetisierung in Medien und Werbung Sturm laufender homophober Backlash in bestimmten Medien, ein (erneutes) Rabiatwerden traditionell homophober Kreise und die alltägliche Gewalt gegen Schwule und Lesben.

Der Dortmunder Literaturwissenschaftler Jürgen Link, Herausgeber der Zeitschrift kultuRRevolution, hat mit seinem "Versuch über den Normalismus" (Opladen 1997) einen diskurstheoretischen Ansatz vorgelegt, der hier weiterführen kann. Mit "Normalismus" bezeichnet Link einen Archipel von Institutionen und Praktiken, von wissenschaftlichen Disziplinen, Ratgeberliteratur und Medien, die mehr oder minder verbindliche Vorgaben zur "normalen" Subjektivierung (im doppelten Sinne von Subjektwerdung und Unterwerfung) machen.

Als solcher Archipel ist Normalismus nicht auf Kapitalismus reduzierbar; er wurde allerdings sehr früh punktuell mit dem Kapitalismus verkoppelt. "Normalität" ist als historisch-spezifischer Begriff von "Alltäglichkeit" zu unterscheiden. Ebenso muß zwischen "Norm" und "Normalität" differenziert werden. Eine Norm legt vorweg fest, was ihr entspricht und widerstrebt. Normalität kann erst nachträglich festgelegt werden. So kann in sexualstatistischer Betrachtung homosexueller Geschlechtsverkehr, also ein Verstoß gegen die christliche Norm, durchaus zur Normalität gehören. Im nachhinein erfährt man, nach Vorlage aktueller sexologischer Bettbilanzen über Koitusfrequenz und sexuelle Vorlieben, ob und inwieweit das jeweilige individuelle Verhalten normal gewesen sein wird.

Entscheidend in der Entwicklung des Normalismus war die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzende Erkenntnis, daß keine strikte und substantielle Trennung zwischen normal und anomal bestehen. Diese Einsicht eröffnete die Möglichkeit gradueller und flexibler Normalisierung. Gleichzeitig aber ist der Verlust jener vermeintlich natürlichen festen Grenzen der Normalität Auslöser von "Denormalisierungsangst". Subjekte geraten über den drohenden Verlust fester Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit, Vernunft und Wahnsinn usw. in Panik und versuchen, dieser Identitätsbedrohung durch um so striktere Grenzziehung und -aufrüstung zu begegnen.

Dies läßt sich an Otto Weininger zeigen, dessen berüchtigtes Buch "Geschlecht und Charakter" (1903) und der anschließende Selbstmord ihn - nicht nur für Theodor Lessing- zu einem Paradebeispiel für "jüdischen Selbsthaß" machten. "Geschlecht und Charakter" verdient den Ruf eines frauenfeindlichen Klassikers, birgt aber, wie Ulla Link-Heer und Jürgen Link herausgearbeitet haben, im ersten Teil einige überraschende sexualtheoretische Spekulationen.

Die Grenzen männlicher und weiblicher Normalität werden bei Weininger fließend. Der Wesensdifferenz der Geschlechter wird die Grundlage entzogen. Weininger argumentiert sogar für die gesellschaftliche Anerkennung der Homosexuellen. Homosexualität sei "keine Anomalie", sondern reihe sich "als die Geschlechtlichkeit der sexuellen Mittelstufen ein in den kontinuierlichen Zusammenhang der sexuellen Zwischenformen".

Im zweiten Teil des Buches dagegen führt die paranoide Angst des Autors vor dem eigenen flexiblen Denkmodell vollständiger Kontinuierung und Integrierbarkeit des binären Geschlechtsgegensatzes zur Mobilisierung der tradierten Denkmittel der Charakterologie, um absolute Diskontinuität und Wesensdifferenz zu restaurieren. Dieser Operation gegen Grenzverwischung fallen "der Jude" und "das Weib" zum Opfer, die Weininger geistestypologisch parallel schaltet. "Der Jude" sei der "Grenzverwischer kat'exochén", schrieb Weininger, den Hitler, der Überlieferung Martin Bormans zufolge, als den einzigen "anständigen Juden" betrachtete, der sich durchschaut und dann erschossen habe.

Bei Weininger treffen die beiden konkurrierenden, doch miteinander verbundenen Strategien des Normalismus, aufeinander: die protonormalistische, die für stramme Grenzsicherung steht und dabei auch auf vornormalistische Muster der Grenzziehung zurückgreift, und die flexibel-normalistische, die graduelle Differenzierung vornimmt. Ab 1914 gewann die protonormalistische Strategie die Oberhand.

Nach 1945 setzt sich im Westen die flexibel normalistische Strategie langsam durch und bekam ab 1968 einen kräftigen Schub. Der kulturrevolutionäre Aufbruch, homopolitisch gegen sektoriell dominanten Protonormalismus gerichtet, führte indes nicht zur "Befreiung", sondern unintendiert, doch nicht geringzuschätzen, zu flexibler normalistischer Regulierung. Anders, als es der zu simple am Protonormalismus abgelesene Binarismus "reine und kompromißlos verbindliche, juristisch gestützte Norm" versus "Abweichung pur" zu denken erlaubt, erwies sich Normalität auch sexualpolitisch als variabel und integrationsfähig; die feststellbaren Integrationseffekte sind kritisierenswert, doch nicht als Sünde wider das Wesen der Homosexualität zu denunzieren.

Nach Link setzte 1989 ein Umschlag zur erneuten Dominanz des Protonormalismus ein. Die faktische Abschaffung des Asylrechts und die paramilitärische Grenzsicherung (statt flexibler Regulierung von Einwanderung) verdeutlichen dies. Die zero tolerance macht den Abschied von graduell abgestufter Repression zum Programm "innere Sicherheit". Manches davon schlägt auch bei den Akteuren des beim CSD dominanten Integrationskurses übel durch; flexibel normalistisch Subjektivierte können im persönlichen Subjektmix durchaus eine Portion Protonormalismus integrieren.

Dennoch bleiben der CSD und eine noch so angepaßte Homo-Bewegung Subjekte (Teilhaber und Unterworfene) der flexibel normalistischen Strategie. Angesichts des um sich greifenden Protonormalismus erscheint diese Position erstaunlich stabil. Dies um so mehr, als die protonormalistische Panikmache der achtziger Jahre, die massenmedial eine katastrophische Denormalisierung durch Extrapolationen steigender Aids-Infektionsraten suggerierte, gezeigt hat, welche Potentiale an Denormalisierungsangst existieren.

Protonormalistische Subjektbildung neigt zur Kohärenz, d.h. die betreffenden Subjekte tendieren zur Übertragung der in einem Sektor vorgenommenen strikten Grenzziehung auf andere, tendenziell auf alle gesellschaftlichen Sektoren. (Wenn Link dies als "Bündelung" bezeichnet und anschließend mit "Faschisierung" übersetzt, ist das mehr als ein Wortspiel.)

Das setzt übrigens allen Anbiederungsversuchen Schwuler an Schönbohm und Schlimmere Grenzen. Selbst integrationswütige symbolische Aktionen wie das Hissen der Regenbogenfahne können zu Lehrstücken über die Grenzen des Protonormalismus werden. Man muß nicht in die Junge Freiheit schauen, sondern kann sich mit der Lektüre der Welt begnügen, um festzustellen, welchen Horror jegliche öffentliche Manifestationen Homosexueller auslösen.

Insofern kann der CSD noch so bieder sein - Parade, Party und Fun erfüllen gerade massenmedial ihren Zweck beim Halten der Stellung gegen den Umschlag zum Protonormalismus. Was transnormalistische Explorationen und einen neu zu entwerfenden kulturrevolutionären Impuls angeht, der sich mit den Beschränkungen des flexiblen Normalismus nicht zufrieden gibt, sind Lobbyisten und CSD die falschen Adressen.

Doch was bringt's, das Rind zu kritisieren, weil es keine Eier legt?