Mönsch, Willem!

Gefährliche Orte XXX: 50 Jahre Luftbrücke als Volksstück im Europacenter

Im Europa-Center ist es kalt. Die Klimaanlage funktioniert gut. Bei den "Stachelschweinen" ist es kälter. Wie im Kalten Krieg vielleicht. Stimmung liegt in der Luft. Bald sieht man sie auch. Hinter der Bar hängt etwas Selbstgebasteltes mit Stacheldraht und Berliner Mauer. In einem Schaukasten liegen Care-Pakete, Lucky Strikes und Chewing Gum. Drei junge Menschen posieren als amerikanische Befreier und machen historische Gesichter. Im Zuschauerraum baumeln Candy-Fallschirme von der Decke.

Die Gasag hat die Premiere aufgekauft. Schließlich ist sie offizielle Sponsorin. Jetzt werden ihre besten Leute vorgeschickt. Die tragen dunkle Anzüge mit dicken Schulterpolstern und haben Gattinnen mit strammen Waden dabei. Junge Hostessen in Fünfziger-Jahre-Kleidern, die gefroren grinsen und auf keinen Fall etwas gefragt werden sollten, reichen kalte Getränke. Beides zusammen verschönert den Betriebsausflug so nachhaltig, daß die Vorstellung eine Viertelstunde später beginnt. Das Programmheft gibt den Inhalt des Stückes, das gleich gezeigt wird, leicht faßlich wieder. In seiner Grußadresse schreibt Eberhard Diepgen, daß aus Gegnern Partner, aus Feinden Freunde werden können. Wie zum Beispiel damals, als der Russe den Berlinern das Licht abdrehte. Auf der Seite daneben wirbt ein Hund mit Silberblick für den Tag der Offenen Tür: "Mit einem Scheckheft sind Sie König."

Das ist Berlin. Vor fünfzig Jahren begann die Blockade des Westteils der Stadt, die von den West-Allierten per Luftbrücke durchbrochen wurde. Dieses Beziehungsjubiläum hat naturgemäß allerlei Veranstaltungen zur Folge, wie eine Neuinszenierung von Horst Pillaus "Der Kaiser von Neukölln". Sein "Volksstück über die Blockade" hat Brigitte Grothum mit einem gemischten Ensemble aus "Stachelschweinen" und Aktivisten des "Jedermann", den sie regelmäßig im Berliner Dom veranstaltet, in Szene gesetzt. Motto: Stimmung, Stimmung über alles.

Michael Goden hat dafür eine original Berliner Nachkriegskneipe mit Kohleofen gebaut. Zwei Emailleschilder und die Leuchtreklame über der Theke nennen dieselbe Brauerei, die das Luftbrücken-Theater so freundlich unterstützt hat. In drei Komödien hat Pillau den Urberliner Wilhelm Kaiser ("Kaiser Wilhelm, haha") vom Alexanderplatz (1964) über Neukölln (1987) bis zum Potsdamer Platz (1992) geschickt. Im Mittelstück vorwiegend von einwandfreien eingeborenen Originalen begleitet, die janz doll von wegen die Vasorjung wat koofen wollen und, Mönsch, Willem, über den Maler Gogäng lachen.

Dreh- und Angelpunkt des Handel-und-Wandel-Geschehens sind die neuen "Kaiserstuben" in Neukölln, wo Ex-Ossi Kaiser als patriarchal-schlitzohriger Kneipier regiert. Die "Stachelschwein"-Legende Wolfgang Gruner hat zwar meist nicht mehr zu tun, als gelegentlich ein Bier zu zapfen, aber das geschieht sehr wirkungsvoll und mit extra trockenen Jokes: "Luft gibt es überall, aber atmen kann man nur in Berlin." Natürlich in West-Berlin, wo die Luft stark nach Freiheit riecht. Im Souterrain des Europa-Centers aber riecht sie kräftig nach Sektrülpsern und Mal'n-richtig-schöner-Abend-Koller.

Kaiser ist "Weltmeister im Organisieren", sagt dauernd "Is doch juut" und wirkt auch sonst sehr ulkig. Wie die anderen neuwestlichen Jubel-Berliner um ihn herum. "Is det schön"-Emma (Yvonne J. Hornack-Pier) war einst Prostituierte und ist nun Krankenschwester. Wilhelms Tochter Kitty (Debora Weigert) ist nun auch Krankenschwester und außerdem das deutsche Fräuleinwunder mit blondem Dauerlächeln, das sich auf dem Schwarzmarkt Schmieröl im Glas als Honig andrehen läßt. Ein leibhaftiger Ami (Manfred Petersen ) namens Dick muß noch her, mit breit-gutturalem Lachgepolter ("O-hähä-hio"), wettergegerbtem Siegerantlitz und markantem Schritt. Und natürlich mit der obligaten braunen Papiertüte voller Leckereien for the Frauleins, vom Curry-Pulver bis zu Cocktailwürstchen. "Klein, aber von Dick", sagt Kaiser, und: "Ja, isses denn die possibility". Das Publikum rast.

Auch der ewige Wendehals darf nicht fehlen. Heidenreich (Uwe Paulsen) ist die personifizierte Schiebermütze, die sein Gesicht stets halb verdeckt. Kommunist, Nazi, SED - bei aller Hölzernheit ist er ein geschmeidiger Mitläufer, der vor dem Gang nach Westen noch schnell die Parteikasse klaut, um sich damit in die CDU hineinzuspendieren. Die Tresengehilfin Wally (Brigitte Grothum) verkörpert hüftschwingenden Trümmerfrauen-Optimismus, löst jedoch die szenische Blockade trotz hochtourigen Bewegungsdranges nur unwesentlich auf. Die Regisseurin Brigitte hat die Schauspielerin Grothum im Stich gelassen - und den Rest der Belegschaft ebenso. Wodurch Pillaus mild verklärte Erinnerungskomödie sentimental in die Breite geht und durch die langatmigen Pausen zwischen den mühsam erspielten Pointen zerfällt.

Türenklapper-Dramaturgie und freches Geschnodder werden gnadenlos zerdehnt, erst recht die ohnedies schulfunkhaft eingebaute Zeitgeschichte: Währungsreform, Schwarzmarkt, Stromsperren, Ersatzbriketts aus Spandau, Trockenpulvernahrung aus dem Rosinenbomber, dazu Zahlen, Daten, Fakten - sowie Ernst Reuter live im RIAS: "Schaut auf diese Stadt". Samt ihrer kleinen Zille-Berliner, die es nicht leicht haben und denen Pillau - trotz aller Klischees - viel "Charakter" und ein durchaus loses Mundwerk gegeben hat.

Grothum hat den Historien-Schwank als komisches Bildungstheater zu inszenieren versucht, wobei jedoch vor lauter Bildung das Theater verschwindet. Und der Luftbrücke die Luft ausgeht. Statt dessen gibt es Stimmung, was bedeutet, daß in der Kneipe zwar viel getrunken, aber nie bezahlt wird. Knorke, wa. Auch wenn, langweilig, wie sie schmeckt, sogar noch die Curry-Wurscht erfunden wird: So tanzt der Bär nicht.

"Der Kaiser von Neukölln" von Horst Pillau. Regie: Brigitte Grothum. Mit Wolfgang Gruner, Debora Weigert, Brigitte Grothum, Yvonne J. Hornack-Pier u.a. Bis zum 5. Juli täglich 20 Uhr, Europacenter, Berlin