O http, wie tut das Herz mir weh!

Wer schreibt was im Netz? Eine Suchmaschinen-Fahndung nach Literatur

Wir erinnern uns: Nachdem es den Nerds und Freaks, die mit Büchern allgemein nicht viel anzufangen wissen, gelungen war, ihr neues Spielzeug so hartnäckig anzupreisen, daß auch der Rest irgendwann glaubte, nicht mehr ohne auszukommen - in jener Frühphase also -, war das Internet noch zu neunzig Prozent damit beschäftigt, sich über sich selbst bewußt zu werden und erinnerte damit ein wenig an den Pottwal in Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis".

Dieser, aus einem unglücklichen Zufall ein paar Meilen über der Oberfläche irgendeines Planeten geboren, hat nur die paar Sekunden bis zum "plötzlichen und sehr feuchten Aufschlag" auf der Planetenoberfläche, um sich über seine Identität als Wal Gedanken zu machen, was Adams wie folgt notiert: "'AhÖ! Was passiert denn hier?' dachte er. 'Äh, Entschuldige, wer bin ich? Warum bin ich hier? Was ist der Sinn meines Lebens? Was meine ich wohl mit der Frage: Wer bin ich? Nun mal ruhig! Guck erstmal, was hier überhaupt los ist.'" Womit wir schon fast beim Thema wären.

Gegenwärtig scheint im Internet die Phase der Selbstbewußtwerdung so gut wie abgeschlossen zu sein - schiere Langeweile wird mit dazu beigetragen haben. Anstatt daß das Netz nun aber vom reinen Selbstzweck sich zu etwas Nützlichem entwickelte, folgt der plötzliche und sehr feuchte Aufschlag. Die Phase der Vollkommerzialisierung ist eingeläutet, spätestens seit nicht nur Abzocker und Zuhälter, sondern auch sämtliche mittelständischen Unternehmen es für ihre Zwecke entdeckten und zu einer einzigen Dauerwerbesendung umfunktionieren. Gleichzeitig existieren natürlich in den Nischen und Randbereichen jene atavistischen Ökotope fort, in denen jeder chatten und auf seine Homepage schreiben kann, was er will, weil es sowieso niemanden interessiert.

Was diesen Nicht-Ort between a rock and a hard place für Menschen interessant machen sollte, die professionell mit Texten umgehen oder sie produzieren, will spontan nicht so recht einleuchten. Was hat Literatur eigentlich dort verloren, wo ein Text nur dazu dient, um von ihm aus durch die eingebauten Hyperlinks subito zum nächsten zu springen? Wo die rhizomatischen Strukturen alles bedeuten und das, was am Ende zum Vorschein kommt, nebensächlich ist? Lassen wir jene Art von Literatur außen vor, die mäßig erfolgreich versucht, für diese Struktur eine verschachtelte neue Form zu finden. (Borges' Texte antizipieren diese Form: Geschichten, die nicht mehr nur eine Handlung haben, sondern alle denkbar möglichen.) Die Autoren dieser Geschichten scheitern in den Geschichten meist am Versuch und werden darüber regelmäßig wahnsinnig, was eine Art Menetekel sein könnte.

Lassen wir auch jene zahllosen Namenlose außen vor, die wenigstens so schlau waren, den "Verlag sucht Autoren"-Bluff zu durchschauen und die statt dreitausend Mark "Druckkostenvorschuß" für ihre Erstveröffentlichung hinzulegen, ihre Geschichten und Gedichte ins Internet stellen, wo es wenigstens nicht so viel kostet, wenn sie niemand liest. Konzentrieren wir uns auf jene, deren Namen man von echtem Papier her kennt, und wo man sich fragt, was sie in den unwirtlichen unwirklichen respektive virtuellen Gefilden verloren haben - wenn überhaupt.

Es muß nicht immer Rückständigkeit und Ignoranz sein, was Schriftsteller davon abhält, sich mit der konfusen Netzwelt abzugeben. Rainald Kaiser bemerkt in der Einleitung zu seinem sehr hübschen, leider naturgemäß nicht mehr ganz aktuellen Brevier über literarische Net-Sites dazu ("Literarische Spaziergänge im Internet", 1997; eine Aktualisierung findet sich unter eichborn.com: "Es zeigt sich aber gerade in den literarischen Sphären des Internet, daß etwas Wichtiges fehlt, wenn aus der Sphäre der lebenden Berufsschreiber allenfalls Kostproben, Spenden aus der Schublade und Zitatenkrümel auf den Tisch kommen, während Hobby- und Hypertextpoeten im Bunde mit gemeinfreien Klassikern die Szene beherrschen."

Zu fragen wäre indessen, was eigentlich fehlt bzw. was gewonnen wäre, wenn es nicht fehlte. In der Tat scheint das Gros deutschsprachiger Schriftsteller durch die Netzabstinenz nichts zu vermissen, und umgekehrt werden sie auch nicht besonders vermißt. Prima materia findet sich so gut wie gar nicht. Das, was die Suchmaschinen ausspucken, ist zumeist Sekundär- und Tertiärliteratur. Daß ein Text nie wirklich zu Ende interpretiert ist - im Netz findet diese ABM-Programmatik für Literaturwissenschaftler ihre Erfüllung. Das führt zu der paradoxen Situation, daß die meisten Schriftsteller, die dort präsent sind, bereits seit Äonen tot und damit aber immer noch moderner erscheinen als ihre noch lebenden Kollegen. Man braucht nicht erst die Ernst Jünger-Memorial-
Homepage unter www.sjc.ox.ac.uk anzuklicken, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß das Netz in literarischer Hinsicht ein einziger großer Friedhof ist.Aber etwas bewegt sich doch zwischen den Gräbern.

Im angelsächsischen Raum ist vor allem die postmoderne Riege um Thomas Pynchon, Martin Amis, J.G. Ballard und Don DeLillo stark vertreten und untereinander vernetzt. Das ist insofern konsequent, als die Texte vorrangig selbstreferentiell angelegt sind. "Why did writers stop telling stories and start going on about how they were telling them?" fragt etwa Martin Amis in einer unter www.albion.edu veröffentlichten Besprechung von DeLillos "Mao II".

Diese und ähnliche Fragen lassen sich vortrefflich auf der nächsthöheren Ebene, sprich interaktiv erörtern. Aus eben diesem Grund ist natürlich auch Umberto Ecos Anwesenheit im Netz geradezu obligatorisch (dsc.unibo.it). Aber auch im deutschsprachigen Raum tut sich etwas.

So hat Rainald Goetz mit seiner Pioniertat, tägliche Tagebucheintragungen ins Internet zu stellen, für Wirbel gesorgt (www.rainaldgoetz.de). Dort kann man (z.B. in der Eintragung vom 13. Juni) nachprüfen, warum das Internet einfach nicht zum Nachlesen taugt: "Das rechte Ohr tut weh? Das kommt vielleicht vom Lesen. Ich wollte gerade im Spiegel via Internet über Jackie Brown nachlesen, aber da braucht man andere Reizresistenzen. Wenn die Werbung in dieser Werbeleiste direkt über dem Artikel auch noch BLINKT, das ist mir irgendwie zu kraß. Da kriegt man ja Ohrenschmerzen davon."

Auch wenn man sich nicht unbedingt dafür interessiert, was Rainald Goetz den Tag über macht und denkt, wird doch eine neue Qualität des Mediums an diesem Projekt sichtbar, die in der Möglichkeit zur direkten Intervention schlummert. Wenn Goetz etwa am 7. Juni, einen Tag nach der hochnotpeinlichen Bundesfilmpreisverleihung, schreibt: "Ich hab bloß keen Bock auf das alles. Genau: Wie Meret Becker gestern, mit demonstrativ aufgekratzten Brustwarzen, ihren hohlen Berliner-Schnauze-Text zum Film-Preis aufsagte, das ist schlimmer als Kanther hoch Brandenburg mal Tor durch SS." Dann kann man am nächsten Tag denken: Oh, ging mir genauso, auch wenn ich das mit den aufgekratzten Brust nicht ganz verstehe Ö Ob man will oder nicht, entsteht eine Intimität, die es in der Literatur in dieser Form bislang nicht gab. Wie man das nun beurteilt, ist eine andere Frage.

Bis auf wenige Ausnahmen macht sich die schriftstellerische Prominenz eher rar - mit einer interessanten Ausnahme: Die diesjährige Büchner-Preisträgerin Elfriede Jelinek hat eine eigene Homepage, auf der sogar einiges an Textmaterial zu haben ist (ourworld.compuserve.com). Auch meine E-mail-Nachfrage nach Sinn und Zweck des Ganzen wird prompt beantwortet mit: "(...) e-mail ist toll, kann man so rasch mit den Brieffreunden und auch mit Leuten, mit denen man arbeitet, in Kontakt treten und selber die Post lesen, wann man Lust hat und nicht wann und weil sie grad kommt. Homepage hat mein Mann gemacht, der Elektroniker von Beruf ist, hat ihm Spass gemacht. Sehe ich vor allem für ausländische Germanistinnen und Germanisten und überhaupt Literaturinteressierte als Arbeitshilfe, weil die doch viele Sachen, die publiziert sind, nicht so leicht kriegen. Herzliche Grüße von Elfriede Jelinek."

Das ist eine so charmant-pragmatische Version davon, was Schriftsteller eigentlich im Netz verloren haben, daß man es getrost dabei belassen kann, bzw. es bleibt zu hoffen, daß das Beispiel bei den angenehmeren Schreibern Schule machte.

Wenn auch die Literatur durch das Internet wohl keine bessere wird, könnte das Internet doch durch die richtigen literarische Neuzugänge und den direkteren Zugriff, den man dadurch hätte, durchaus ein besseres und nützlicheres werden.