»Es gibt kein Zuviel«

Erotik und Verschwendung bei Gianni Versace.

Der griechischen Antike entnahm Gianni Versace den bildhaften Ausdruck der Affekte, des heidnischen Rausches und der Ekstase. Seine Renaissance ist die der venezianischen Stofflichkeit und Leiblichkeit eines Tizian - und nicht die florentinische eines Michelangelo. Gianni Versaces Bilder des Weiblichen sind der italienischen tragischen Oper des 19. Jahrhunderts entnommen, der "Norma" Bellinis oder der "Lucia di Lammermoor" Donizettis.

1996 fotografierte Steven Meisel Madonna für die Herbst/Winter-Kollektion von Versace, und er gestaltete mit ihr ein Szenario wie aus der "Kameliendame". Ob Madonna aufschaut oder in die Weiten eines fiktiven Raums blickt, ihre Körpersprache läßt ein begehrtes oder begehrendes Gegenüber entstehen. Auf dem Spielplan steht die nostalgische "Traviata"; die Kurtisane des Impressionismus wird aufgerufen, Prostitution jenseits einer kapitalistischen Verwertung idealisiert.

Die große tragische italienische Oper des 19. Jahrhunderts ließ Frauen an der Verdrängung des Weiblichen aus der bürgerlichen Gesellschaft wahnsinnig werden. Versaces Kampagne für die 1996er-Kollektion rief den Verlust ins Gedächtnis zurück und berichete zugleich von der aktuellen Sehnsucht, diesen Zustand des Mangels zu überwinden.

Kritikerinnen sehen in Versaces Entwürfen ein Angebot an Frauen, aktive Protagonistinnen ihrer Handlungen zu sein. Ich würde zumindest soweit gehen zu sagen, daß in der Mediendebatte darüber, daß Feminismus zu Impotenz führt, Versace auf seiten der Frauen war. Darin lag das Tizianeske seiner Haltung, daß er Weiblichkeit mit sexueller Macht ausstattete und sie darüber vergöttlichte.

Wenn man die immer wieder benutzte Wendung von Versaces "barockem" Stil in eine Ökonomie übersetzt, läßt sich sagen, daß bei ihm unproduktive Verausgabung herrscht, wo Leistung sein sollte, Verschwendung, wo Nützlichkeit gefragt war und ist.

Folgt man der Feststellung Georges Batailles, daß "der Haß auf die Verschwendung der Daseinsgrund und die Rechtfertigung der Bourgeoisie" ist, so ist die Mode Versaces ein Regelverstoß, da Versace zurückeroberte, was Bataille aus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ausgetrieben sah: das Generöse, Orgiastische, Maßlose.

Nach Bataille wäre dies das feudalistische Prinzip, das aber nicht notwendig Versaces Sache gewesen sein muß. Eher erinnert seine Äußerung, daß es nie ein Zuviel geben kann, an jenen Slogan, der der Hollywood-Diva May West in den Mund gelegt wurde: "Too much of a good thing could be wonderful."

Die Wendung von der Ökonomie hin zum Hollywood-Film soll hinführen zu dem, was für das Stoffdesign, der Hauptsensation bei Versace, wichtig ist. Seine Mode sind Kreationsergebnisse einer medial rezipierten Geschichte, seien diese Medien nun die Malerei, die Skulptur oder die Fotografie oder der Film. Mariuccia Casadio kann deshalb in dem Buch "Versace. Der Prophet des Glamour" behaupten, die Visualität der Mode Versaces baue auf die interpretatorischen Fähigkeiten des Medienmenschen im ausgehenden 20. Jahrhundert, weil die Mode selbst aus der Interpretation und Verarbeitung der Medien entstanden war.

Somit paaren sich in Versaces Bilder des Weiblichen auch zwei Medienkörper: Da ist auf der einen Seite der straffe athletische Leistungskörper, der die Werbung der neunziger Jahre dominiert. Diesem Körper wird auf der anderen Seite seine Aggressivität und Zweckrationalität genommen, indem ihm die Opulenz und der Glamour von Hollywoods frühen Göttinnen und das Weiblichkeitsideal des italienischen Films der späten vierziger und der fünfziger Jahre zugesellt wird. Zu diesen Körper-Bildern läßt sich ein Gegenbild ausmachen.

Die aktuelle Rede über virtuelle Technologien ist begleitet von einer Rede über die platonische Überwindung des "bedrückend beengenden Fleisches", der Körper hat in der kybernetischen Mensch-Maschine-Einheit den Stellenwert von Wet-ware, oder aber das Fleisch dient wie bei Marshall McLuhan nurmehr als Pufferzone gegen die beängstigende Entgrenzung des Nervensystems im Netzwerk. Das derzeit höchst populäre leichte durchscheinende Nichts zur Bekleidung des weiblichen Körpers muß im Kontext dieser Rede gesehen werden. Auch hier stellt sich die Frage nach den Geschlechterverhältnissen, wenn das, was zu verschwinden droht, das Bild des weiblichen nackten Körpers enthält: das Muster von weiblicher Materie und männlicher Form scheint überdeutlich.

In den Kollektionen von Versace gab es auch mehr oder weniger durchsichtige Kleider, 1993 orientierten sich fast alle Abendkleider an Lingerien; sie waren aber Sondererscheinungen und unterschieden sich in einem wesentlichen Aspekt von den Entwürfen anderer Designer: im Material. Versace verwandte Plastik und PVC zur Umhüllung der Haut, ein dem Organischen radikal entgegengesetztes Material und nicht eine zweite Pseudo-Haut der fließenden Stoffe, wie sie Stella McCartney, Alexander McQueen oder Karl Lagerfeld benutzen.

Es gibt bei Versace einen Umgang mit der menschlichen Haut, der an das erinnert, was Volker Demut bei Oscar Wilde sieht: "eine Deklaration des Menschenrechts auf die eigene Haut". Anders formuliert, das verachtete Fleisch der Cyberpunks wird zurückverwandelt in die Haut als sensitives Organ.

Kleidung oder Decken dienen dem Schutz der Haut. Deshalb werden in den Kampagnen von Versace die Kleidung und die sie begleitenden Accessoires und Textilien immer als das radikal Andere der Haut gezeigt. Haut wurde als prekärste Trennung zwischen Mensch und Welt von Versace ernst genommen und als erotisches Organ ausgestellt. In dieser doppelten Bedeutung schien ihm Haut schützenswert.

In der 1994er Kampagne wurden nackte Männer als erotische Figuren propagiert - sie lassen sich in diesem Sinne durchaus als männlicher Gegenpart zur "Prostituierten" verstehen. So wie Haut und Stoff gegen- oder nebeneinandergestellt werden, die haptische Sinnlichkeit der Haut gegen die stoffliche Sinnlichkeit der Bekleidung, zeugt Haut von ihrem Tastsinn, von einem Ort mit einem eigenen Sensorium.

In einer Werbung für einen Füllfederhalter wird das Logo Versaces, das Medusenhaupt, durchaus in seiner apotropäischen Wirkung, d.h. in seiner Wirkung zur Vermeidung von Schaden, auf einen nackten männlichen Oberkörper geschrieben, eben im Hinblick auf die Verletzlichkeit der höchst sensiblen Haut. Zugleich zeigt dieses Werbefoto, daß Mode bewußt oder unbewußt ebenso als Einschreibung, als Körpersemantik verstanden wird, Mode also auch eine kulturelle Technik ist, die den Körper als mediale Technologie darstellt. Da Mode ohne Körper nicht ist, stellt sich die Frage, von welcher Art der Körper ist, der hier gezeigt wird. So wie Courrèges und Paco Rabanne in den sechziger Jahre auf die Raumfahrt reagierten und diese Technologie feierten, so ist die Frage heute, wie Mode heute Technologien affirmiert oder dekonstruiert.

Ich will mit meinen Thesen zur Haut bei Versace keineswegs behaupten, daß es gegen die technologische Augensinn-Erfahrung eine authentische Leiberfahrung gibt. Auch in Versace lauert ein Mythos - und zwar der vom Schöpfer. Seine radikale Trennung von Haut und Material läßt sich verstehen als fundamentale Aussage über die Funktion eines Modeschöpfers. Sein Werk ist die Bekleidung der nackten Haut. Und um dieses Werk wertzuschätzen, muß zunächst die Haut als Organ nobilitiert werden.

Konservative, weil reduktionistische Positionen verflachen die kybernetische Mensch-Maschine-Einheit auf das Pawlowsche Reiz-Reaktionsschema. Affekte und Leidenschaften gelten als technokratisch gebannt. Richard Avedon setzte für eine Versace-Kampagane 1993 bildsprachliche Mittel für expressive Stimmungen ein, die einen Analogieschluß mit Aby Warburgs Untersuchungen zum Nachleben der Antike in der Gebärdensprache herausfordern. Avedon gibt in dieser Kampagne Leidenschaften und Affekte Bilder, die Warburg in der Mänade der griechischen Antike fand, sprich wehende Gewänder, flatternde Säume und wogendes Haar. Die sogenannen Pathosformeln sind ihm Hinweise auf die zeitlose Dialektik von Logik und Magie, Leidenschaft und Vernunft.

Von hier aus läßt sich fragen: Was passiert in den Avedon-Fotografien, und wofür steht Versaces Mode? Der vertikale Tauschverkehr der Formen trägt Konflikte weiter und trägt sie aus. Zweck von Kleidung ist es, den Situationen angemessen bekleidet zu sein, Nacktheit zu verhüllen. Nach dem dialektischen Modell Warburgs könnte man vielleicht formulieren, daß sich der Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft bei Versace als Konflikt zwischen Leistung und Verschwendung zeigte. Omar Calabrese schreibt im Katalog zur Versace-Retrospektive 1994 im Kunstgewerbemuseum in Berlin:

"Wir Italiener nennen die Verführung 'seduzione', vom Lateinischen se ducere, zu sich ziehen. Anders gesagt: die Besonderheit der Verführung durch Versaces Kleidung liegt darin, die Wahrnehmung des anderen auf sich zu ziehen." Dieser Überschuß an Bedeutung ist im Alltagsverkehr Verschwendung.

Zur Mänade formuliert Anna Donoue die These, sie sei essentiell für die Fläche gestaltet und sowohl diese Verflachung als auch ihre Sakralisierung sprächen dafür, daß sie ihrer physischen Präsenz enthoben wird. Und da nach Ines Lindner die weibliche Mänade eine Übertretungsfigur ist, ein ekstatisches Zeichen für Grenzüberschreitung, ist verständlich, warum sie nur in ihrer Zweidimensionalität erschaut werden konnte.

Mit Hilfe des Modells Stephanie Seymour befreite Richard Avedon für Versace zunächst die Mänade aus ihrem Relief, um sie flugs wieder auf die zweidimensionale Fotoschicht zu bannen. Von der Bedrohlichkeit des männlichen Schauderns vor mänadischer Raserei und Vernunftentgrenzung sprach schon Warburg: "Ich verlor meinen Verstand. Immer wieder war sie es, die Leben und Bewegung brachte, in sonst ruhige Vorstellungen. Ja, sie schien die verkörperte Bewegung (...), aber es ist sehr schwer, sie zur Geliebten zu haben."

In einer Notiz von 1929 über die Mnemosyne, seine Theorie zum sozialen Gedächtnis, schreibt Aby Warburg, was er in der dionysischen Antike gefunden hat: "In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins, soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken läßt, in solcher Intensität einhämmert, daß diese Engramme leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben."

In diesem Sinne ließe sich die Versace-Kampagne von Avedon 1993 verstehen. Hier wurde etwas aus dem historischen Gedächtnis aktiviert, was in der parallel dazu verlaufenden Diskussion über Cyberspace und Cybersex zum Schweigen gebracht werden soll: daß der Körper nicht nur Wet-ware ist, sondern Ort der Affekte und der unvernünftigen Leidenschaften.

Der leidenschaftliche, affektbeladene Körper ist aber nicht nur - und auch das wird in Warburgs Forschungen über Jahrzehnte deutlich - der lebensbejahende Körper, sondern auch der in seiner Integrität und Unversehrtheit bedrohte Körper. Leben und Tod gehören im Bild des Wahnsinns und der Ekstase zusammen.

Avedon läßt seine in Versace gekleideten Mänaden auf einem abgestorbenen Baumstamm sich räkeln, kriechen, liegen, oder aber sie verlustieren sich im Sande. In dieser Verbindung aus abgestorbenen oder anorganischen Materialien und Leibern scheint etwas in die zeitgenössische Modefotografie übertragen, was Warburg in eine gerdezu rauschhafte Sprache hat verfallen lassen: "Im harten Steinmetzwerk (der antiken Sarkophage), das die pompöse prahlende oder verzweifelt sterbende Heidenwelt hinterließ, jubelt und klagt ein lebender Totentanz."

Vielleicht ist es der Mode ganz allgemein, aber vor allem in den Inszenierungen von Gianni Versace eigen, daß sie Vergänglichkeit und Tod flieht. Dies geschieht vor allem, indem Versace mit seinen Fotografen ein Bild vom weiblichen und männlichen Körper in immer neuen Varianten und Wiederholungen in Szene setzt, das überdeutlich auf die Lebendigkeit, Leidenschaft und Sexualität des Leibes abhebt. Dieser Leib, dieses Bild vom Körper, wurde in die Auseinandersetzung mit den kulturellen Aktivitäten gestellt, die genau gegen diesen speziellen Leib insistieren.

Zu Versaces Bilder des Weiblichen sind zwei Veröffentlichungen im Buchhandel erhältlich:

Samuele Mazza (Hg.): Versace. Der Prophet des Glamour. Wilhelm Heyne Verlag, München 1997, 122 S., DM 38 Versace. Magier der Mode. Schirmer/ Mosel, München 1997, 80 S., DM 34