Alternative Lebensformen

Limer

F. gehörte, ohne es zu ahnen, einer neuen Spezies an, die im Kulturhumus der Großstadt entstanden war. Er war ein Limer (Less income more experience), arbeitete tagsüber als Lektor in einem Frankfurter Verlagshaus und ließ nachts in Berliner Clubs die Körperpolitiksau raus. Statt Sennett und Negri las er Camus, sah aber aus wie Sartre und trank Champagner von Aldi.

Eines Tages kündigte er seinen Job und zog zu Freunden nach Berlin. Aber bereits nach zwei Tagen hatte F. die Schnauze voll vom Berliner Großstadtdschungel, als hätte er das Unglück geahnt, das ihm bevorstand.

Die Bagger vom Potsdamer Platz wühlten durch seine Träume. Die abrasierten Wolkenkratzer in der Friedrichstraße und am Checkpoint Charlie machten ihn, den Weltbürger vom Main, depressiv. Jede Berliner Baugrube eine Love Parade der Architektur: groß, aber nichtig. Er tauchte in das Bermuda-Dreieck zwischen Oranien-, August- und Rosenthaler Straße ein und besichtigte die Hackeschen Höfe: nichtig, aber groß.

Einmal riefen ihm an einer Kebab-Bude in der Brunnenstraße Skins "Oi, oi, oi!" hinterher. Geistesgegenwärtig flüchtete er in eine Telefonzelle. In der U-Bahn starrten Teenager auf seine Designer-Brille. Im Vergleich zu den gefährlichen Drogendealern vom Frankfurter Bahnhofsviertel erschienen ihm die Berliner U-Bahn-Konsumenten wie blutrünstige Mutanten des Untergrunds.

Er fuhr nur noch Taxi und bat den Fahrer, das Fenster zu schließen, weil die Berliner Luft nach Gewalt roch und aggressiv schmeckte. F. ritzte ein Graffito in die Sitzbank: "Punk's not dead".

Nach drei Tagen beschloß er, zurückzugehen nach Frankfurt. Wie sich herausstellte, hatte er seinen Job gar nicht gekündigt, sondern lediglich Resturlaub genommen. Am Vorabend seiner Rückreise gingen wir im Honigmond essen, verspeisten Lammkoteletts auf Ruccola und unterhielten uns darüber, wie man unser "Kapital"-Studium am besten anlegt.

Draußen, direkt an der Kreuzung Tieck- / Diercksenstraße, warteten vier geschorene Schafsköpfe, Skins. Sie blökten gar nicht erst lange herum. F. kriegte einen Stiefel ins Gesicht, ich die Faust ins Kreuz. Jemand alarmierte die Polizei. Das Einsatzkommando war in zwei Minuten zur Stelle, die Skins über alle Berge.

"Wenn sie höflich gesagt hätten, daß sie Geld brauchen, ich hätte ihnen meine Jacke, meine Schuhe und meine Brille geschenkt", sagte F. Tage später. "Wären wir doch gleich in einen dieser Seniorentreffs nach Charlottenburg gegangen, Zwiebelfisch oder Paris Bar, und übrigens schuldest du mir noch 50 Mark", antwortete ich. Aber da hatte er den Hörer schon aufgehängt.