Prothesen für den Kreml

Jelzins gerät unter Dauerbeschuß, und eine neue IWF-Rettungsspritze soll ein Finanzdesaster verhindern

Düster waren des Präsidenten Boris Jelzin Worte Ende vergangener Woche im Kreml: "Extremisten" hätten keine Chance, in Rußland die Macht zu übernehmen.

Daß diese Äußerung vor Offizieren von Armee und Polizei stattfand, denen Jelzin zugleich Honig ums Maul schmierte - sie seien eine "verläßliche Stütze" für den Staat und nicht zuletzt für ihn selbst -, sorgte auch nicht für die Klärung der Frage, warum Jelzin eine solche Bemerkung vom Stapel ließ. Als Reaktion auf tags zuvor an asiatischen Börsenplätzen kursierende Gerüchte, Jelzin sei vom Militär gestürzt oder gar tot? Als Reaktion auf das dienstägliche Begräbnis des nach bisherigen Ermittlungen von seiner Ehefrau erschossenen Ex-Generals und Duma-Abgeordneten Lew Rochlin, bei dem unter den zehntausend Teilnehmern sich auch die ganze Jelzin-feindliche Politprominenz - vom Rechtsaußen Schirinowski über Kommunistenchef Sjuganow bis zum Stalino-Agitator Anpilow - ein Stelldichein gegeben hatte? Weil dort Spekulationen über eine Verwicklung von Jelzins Umgebung in den Todesfall wieder aufgewärmt wurden?

Wie auch immer, "verläßliche Stützen" werden für das wacklige russische Regime immer wichtiger. Ministerpräsident Sergej Kirijenko hat vergangene Woche vor dem russischen Oberhaus, dem Föderationsrat, die wirtschaftliche Situation als "sehr besorgniserregend" bezeichnet; sie habe sich in den letzten zwei Wochen weiter verschärft, und praktisch existiere in Rußland kein Finanzmarkt mehr. Was für einen real existierenden Kapitalismus zwar höchst erstaunlich wäre, aber im Kontext dennoch einen gewissen Sinn ergibt. Denn in der vergangenen Woche versuchte die russische Regierung verzweifelt, Bares über den Verkauf von Schuldscheinen locker zu machen, um fällig werdende Schulden zu begleichen. Trotz Zinssätzen von über 100 Prozent kauften Investoren nur ein Viertel der Anleihen im Gesamtwert von einer Milliarde Dollar.

Auch die internationalen Anleger machten nun mobil. Moody's Investors Service Inc. warnte vor einer verheerenden Kapitalflucht aus Rußland; um einer solchen zu begegnen, benötige seine Wirtschaft eine größere Rettungsspritze, etwa 20 Milliarden Dollar. Seit einiger Zeit ist die Abwertung des Rubel nicht mehr auszuschließen, und für die ausländischen Anleger würde dies einen drastischen Wertverlust ihrer Investitionen bedeuten.

Schon vor zwei Monaten hatte Anatoli Tschubais, der von Jelzin per Ukas in den Rang zum Chefverhandler mit internationalen Kreditinstituten erhoben worden war, ein IWF-Rettungspaket angefordert, und seither sind die russischen Währungsreserven weiter zusammengeschmolzen. Die Steuereinnahmen des russischen Staates sind immer noch gering, und durch die fallenden Preise für Rußlands Hauptexportgüter - Öl und Erdgas - hat sich die Situation noch verschärft. Vergangene Woche bezifferte Tschubais die benötigte Kredit-Summe auf 10 bis 15 Milliarden Dollar. Aber erst vor zwei Jahren hat der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Moskau einen Kredit in Höhe von etwa 9,2 Milliarden Dollar vereinbart, und die Zusage, im Gegenzug für Teilauszahlungen das Steueraufkommen zu erhöhen, hat der russische Staat nicht eingehalten. Nun zeigte sich der IWF zunächst störrisch.

Und so begann das Gerangel um die Rettungsspritze. Aus IWF-Kreisen verlautete, es stünden der Institution nur noch 10 bis 15 Milliarden Dollar zur Verfügung, und es gehe nicht darum, das alles Rußland zuzugestehen.

Allein zur Eindämmung der Asienkrise hat der IWF 35 Milliarden für drei asiatische Länder locker gemacht, und es wurden Erwartungen laut, daß auch die sieben größten Industrieländer direkte Beiträge zur Krisenbekämpfung liefern, statt sich auf IWF und Weltbank zu verlassen. Letztere würden ausgequetscht, sagte ein Vertreter internationaler Finanzorganisationen, der laut Washington Post auf Anonymität für sich und seine Institution bestand. Die G-7-Staaten versuchten, die wacklige Weltökonomie zu stabilisieren, ohne einen Pfennig ihres Geldes anzutasten.

Aber in den G-7-Staaten war nichts zu holen. Statt dessen telefonierte Jelzin am vergangenen Freitag mit seinen "Freunden" William Clinton, Jacques Chirac und Helmut Kohl, um sich Schützenhilfe für ein IWF-Paket zu sichern - was offensichtlich funktionierte.

Am Sonntag berichtete die New York Times, der IWF sei nun doch bereit, Rußland mit einem Finanzpaket von 11 Milliarden Dollar zu helfen. Damit habe der IWF die ursprünglich angepeilte Summe von 5,6 Milliarden fast verdoppelt. Zugleich habe die Weltbank mit Moskau einen Kredit in Höhe von einer bis 1,5 Milliarden vereinbart. Im Gegenzug werde Rußland den Erdgas- und Erdölmarkt liberalisieren, indem der Energiemonopolist Gasprom gezwungen werde, sein in- und ausländisches Pipeline-Netz allen Produzenten zu öffnen.

Zu Anfang dieser Woche berichtete nun die russische Nachrichtenagentur Interfax, der IWF werde einen "Stabilisierungskredit" in Höhe von 12,5 Milliarden Dollar locker machen.

Das Abrutschen des russischen Staates in ein absolutes Finanzdesaster ist damit zumindest verschoben. Doch auf politischer Ebene ist die Situation ebensowenig stabil. Jelzin steht unter dem Beschuß fast aller gesellschaftlichen Gruppen. Mittlerweile vollziehen selbst einige der Tycoons, die noch 1996 Jelzins Wahlkampf gesponsert hatten, deutliche Absetzbewegungen vom Präsidenten. Bereits im Juni hatte B. Beresowski - mittlerweile Chef des GUS-Exekutivkomitees - bekanntgegeben, eine dritte Kandidatur Jelzins bei den nächsten regulären Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 halte er nicht für "nützlich". Beresowski hatte sich bei den Gouverneurswahlen im sibirischen Krasnojarsk gegen den Wunschkandidaten der Moskauer Zentrale entschieden und auf Ex-General A. Lebed gesetzt, den Mann, der in den Startlöchern für die Präsidentschaftswahl sitzt und sich gern als autoritärer Hardliner präsentiert. V. Potanin (an der Spitze der Onexim-Bank) hat sich laut FAZ Anfang vergangener Woche in der Zeitung Moskowskije Nowosti für einen "neuen Führer" ausgesprochen, und selbst in Jelzins Präsidentenadministration werden Stimmen gegen eine erneute Kandidatur Jelzins laut - deren rechtliche Zulässigkeit im übrigen überaus zweifelhaft wäre, da die Verfassung von 1996 dem Präsidenten lediglich zwei Kandidaturen erlaubt.

Allein, die Verfassung ist in Rußland kein Hindernis für einen autoritären Regierungsstil, hat Jelzin doch kürzlich ohne den Schimmer einer Begründung den alten Ministerpräsidenten Tschernomyrdin sowie die gesamte Regierung entlassen und seinen Zögling Kirijenko als Regierungschef installiert - ein erstaunliches Vorgehen, das auch als Staatsstreich bezeichnet werden könnte.

Zu allem Überfluß wachsen die sozialen Spannungen. In der vergangenen Woche blockierten Kohlekumpel, die mindestens sechs Monate Lohnrückstände einfordern, weiter die Transsibirische Eisenbahn, und Tausende Arbeiter aus dem militärisch-industriellen Komplex demonstrierten in Moskau und anderen Städten. Ebenso wie die Kohlekumpel forderten sie nicht nur ausstehende Löhne, sondern auch Jelzins Rücktritt.