Slowmotion im Iran

"Der Geschmack der Kirsche" des iranischen Kirsche" des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami

Ein paar Kilometer vor Teheran, in den nördlichen Außenbezirken der Stadt. Die Landschaft ist karg und herbstlich verdorrt. Keine Asphaltstraßen, sondern steile Schotterwege ziehen sich durch die karstige Landschaft. Das Geräusch eines Wagens im Kies. In einem Range Rover von undefinierbarer Farbe fährt ein Mann mittleren Alters scheinbar ziellos umher. Ab und zu hält er an und blickt suchend aus dem Wagenfenster. Jemand bietet ihm seine Arbeitskraft an, aber der halb trübsinnig, halb distanziert dreinblickende Herr Badii lehnt ab.

Denn was hier inmitten alltäglicher Begebenheiten vorgeführt wird, ist eigentlich eine Reise in die Abstraktion. Nicht nur daß Badii im Verlauf des Film fast immer die gleichen Wegstrecken entlangkurvt, er hat auch ein finales, getreulich verfolgtes Ziel: Er sucht jemanden zu finden, der gegen eine respektable Summe morgens das Grab zuschaufelt, in das er sich abends in selbstmörderischer Absicht zu legen gedenkt.

Die Absurdität der Situation wird dabei von dem in Teheran geborenen Regisseur Abbas Kiarostami eher billigend in Kauf genommen als gesucht, Komik fehlt fast ganz. Sein Held geht seine Reise bedächtig an. Jede Begegnung, jeder Beifahrer, den er mitnimmt, und ins Gespräch verwickelt, wird vorsichtig abgetastet, ob er wohl als möglicher Totengräber in Frage käme. Mit dieser Recherchemethode fördert Kiarostami unter der Hand Erstaunliches - nicht nur zum islamischen Suizidtabu - zutage.

Da ist der junge Soldat aus Kurdistan, der auf die Frage, ob er als Kurde nicht besonders mutig sein müßte, betreten schweigt und später fluchtartig den Wagen verläßt, weil er den Fahrer nach halbstündigem Gesprächsgeplänkel für schwul hält. "Diesen Eindruck wollte ich explizit erzeugen", so der Regisseur, "es gefällt mir, den Zuschauer auf einen Irrweg zu schicken und ihn so auf seine eigene Perversion, seine eigenen Phantasien hinzuweisen."

Auch der afghanische Seminarist, den Kiarostami als nächsten zusteigen läßt, ist wenig hilfreich, verrät aber um so mehr als Repräsentant dogmatischer Gläubigkeit. Obenhin doziert er über die islamische Todsünde Selbstmord und zitiert Altkluges aus dem Koran.

Mit provozierend langen Einstellungen verfolgt die Kamera die Tagestour des Herrn Badii; der Film, ein paradoxes Roadmovie in Slowmotion, verzichtet auf Erklärungen und mit Ausnahme des Epilogs auch auf das dramatische Mittel Filmmusik. Statt dessen unterstützen atmosphärische Geräusche die Handlung: das Scheppern und Knirschen der Straßensteine gegen das Chassis des Jeeps, Kommandorufe exerzierender Soldaten oder Kinderreime.

Der iranisierte Kurde, der Homophobe, der Fundamentalist - Kiarostami charakterisiert sie behutsam als Repräsentanten der islamischen Gesellschaft. Hymnische Pressestimmen, die "Der Geschmack der Kirsche" irgendwo zwischen einer von iranischer Mystik inspirierten Bildungsreise und Tarkowskischer Zeitstudie ansiedeln, unterschlagen den subtilen kritischen Gehalt von Kiarostamis dreizehntem Spielfilm. Sein Blick auf die iranische Gegenwart wahrt Distanz. Eine universelle Geschichte wird erzählt - als spekulatives Planspiel um individuelle Freiheit - und sei es auch nur die des Suizids.

Erst nach Protesten iranischer und französischer Kollegen konnte der Regisseur 1997 zum Filmfestival nach Cannes ausreisen, wo er für "Der Geschmack der Kirsche" mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Den freundschaftlichen Kuß für Jurymitglied Cathérine Deneuve quittierten iranische Fundamentalisten mit Demonstrationen.

Der heute 58jährige Regisseur galt lange Zeit als "director's director", als Cineasten-Tip, geschätzt von so unterschiedlichen Regisseuren wie Akira Kurosawa und Quentin Tarantino.

"Nichtkonforme Einstellungen" warf man ihm ausgerechnet bei einem Spot über Handcreme vor. Nachdem die Kunsthochschule ihn abgelehnt hatte, jobbte er zunächst als Straßenpolizist und wurde ein fleißiger Werbefilmer. Ende der Sechziger war er Mitgründer der Filmsektion der nationalen Kinder- und Jugendbildung, inzwischen hat sich daraus ein renommiertes Filmstudio entwickelt, zugleich eine Nische, in der es Kiarostami seit zwei Jahrzehnten möglich ist, seine Filme zu produzieren.

Bevorzugt besetzt Kiarostami die Rollen mit Laienschauspielern, z.B. spielt den Part des Herrn Bardii Homayoun Ershadi, der eigentlich Architekt ist. Für "Der Geschmack der Kirsche" instruierte der Regisseur seinen Hauptdarsteller mit Videoaufnahmen der Strecke, die der Protagonist im Film tatsächlich abfährt - eine Art heimliche Film-im-Film-Technik. Ebenso wie in "Quer durch den Olivenhain" (1994), einer echten Film-im-Film-Geschichte, bei der die Figuren am Ende bis auf Punktgröße geschrumpft von der Landschaft verschluckt zu werden scheinen, gibt Kiarostami auch hier seinem Film etwas Unabgeschlossenes, Offenes.

Auch der stark dokumentarische Spielfilm "Schularbeiten am Abend" (1989) bedient sich einer trickreichen Konstruktion. Unter der Vorgabe, sich sozialarbeiterisch für die Hausaufgaben zu interessieren, postierten sich Kiarostami und sein Kameramann hinter einem Schreibtisch und ließen eine Klasse achtjähriger Jungen antreten. Unversehens fanden die sich in einer Verhörsituation wieder, die schließlich mit Szenen realer Schulhofappelle und Chomeini-Lobgesänge überblendet wird. So geriet die harmlos begonnene Befragung zu einer Studie über das autoritäre Schulsystem, das aus den Kindern eilfertige Antwortgeber des Fundamentalismus macht.

In dieser Kontinuität steht auch die melancholische Parabel vom "Geschmack der Kirsche". Obwohl kritische Töne angeschlagen werden, besitzt der Film doch ein pragmatisches l'art pour l'art, mit dem sich Kiarostami bewußt der Festlegung und damit auch dem Dogmatismus entzieht.

"Der Geschmack der Kirsche". Iran 1997, R: Abbas Kiarostami. Start: 16. Juli