Zündung mit Verzögerung

Seit Titos Tod ist das Kosovo Zentrum des Jugoslawienkonflikts. Die mafiotische Schattenwirtschaft sorgte für eine fragile Ordnung, die jetzt zerbrochen ist.

Als 1980 der greise Staatsgründer Tito starb, warnten zahlreiche Auguren, aufkommende Nationalitätenkonflikte könnten Jugoslawien über kurz oder lang vor eine Zerreißprobe stellen. Fast alle Beobachter dachten dabei in erster Linie an das Kosovo-Problem. Die bettelarme, zu 90 Prozent von Albanern bewohnte autonome Südprovinz Serbiens galt als das Pulverfaß schlechthin auf dem Balkan. Zunächst schien sich diese Prognose auch zu bestätigen. Im Frühjahr 1981 ging von der Universität in Pristina eine Protestwelle aus, die sehr schnell die gesamte Provinz erfaßte. Die Demonstrationen und Streiks richteten sich vorderhand gegen die wirtschaftliche Vernachlässigung des Kosovo und die Benachteiligung der albanischen Bevölkerung in der serbischen Teilrepublik. Von Beginn an mengten sich aber auch nationalistische Motive und separatistische Bestrebungen in den Protest.

Mit der Unterdrückung dieser Unruhen hörte der albanische Nationalismus indes auch schon auf, den prognostizierten Part zu spielen. Bei der Zerstörung des gesamtjugoslawischen Staates übernahmen andere Kräfte die Hauptrollen. Die blutigen Kämpfe um die Konkursmasse des Tito-Staates wurden bekanntlich in Ostslawonien, in der Krajina und dann in Bosnien und Herzegowina ausgetragen. Erst heute tritt nun auch der Kosovo-Konflikt, die Mutter aller innerjugoslawischen Feindschaften, in das Stadium der bewaffneten Auseinandersetzung.

Erklärungsbedürftig ist allerdings die lange Verzögerung, die fast anderthalb Jahrzehnte prekärer Ruhe, die dem Aufflackern der Kämpfe vorangingen. Das gilt umso mehr, als das Kosovo trotz Vukovar und Sarajevo den Part des virtuellen Dreh- und Angelpunkts der postjugoslawischen Nationalitätenkonflikte immer behalten hatte.

Die großserbischen Strömungen hatten sich Mitte der achtziger Jahre als Bewegung zur Rettung des Kosovo, der mythischen "Wiege des Serbentums", formiert. Slobodan Milosevic hatte sein nationalistisches Paulus-Erlebnis, das ihn an die Spitze der serbischen Führung und zugleich den serbischen Nationalismus in der Teilrepublik an die Macht brachte, Ende 1987 bezeichnenderweise bei einer Großdemonstration auf dem sogenannten Amselfeld. Schon ein Jahr zuvor hatte die Serbische Akademie der Wissenschaften in einem Memorandum vom "kulturellen Genozid" an der serbischen Bevölkerung des Kosovo fabuliert und als dessen Hauptinstrument die "demographische Waffe", sprich die übermäßige Gebärfreude der Albanerinnen, ausgemacht. Die Slowenen und Kroaten wiederum bemäntelten ihre Unabhängigkeitsbestrebungen Ende der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Jahre nicht zuletzt damit, sie wollten einem ähnlichen Schicksal entgehen, wie es die serbische Regierung unter Milosevic den nichtslawischen Parias im Kosovo angedeihen ließ; auch Izetbegovic hat die Deklaration eines eigenen bosnischen Staates mit diesem abschreckenden Beispiel gerechtfertigt. Warum blieb unter diesen Umständen dann ausgerechnet der Kosovo-Konflikt in der Schwebe und die Provinz ein Ort relativer Ruhe?

Auch in der Ära postnationalstaatlicher Konflikte bedarf es für so etwas wie einen "Krieg" gewöhnlich mehr als eines Kombattanten. Der Versuch, mit den separatistischen Ambitionen ernst zu machen und das serbische Gewaltmonopol im Kosovo in Frage zu stellen, hätte angesichts der mythischen Bedeutung dieser Region für das großserbische Selbstverständnis und der überlegenen Repressionsmacht Belgrads schwerlich anders als mit einem Blutbad enden können. Die führenden kosovo-albanischen Kreise waren sich über ihre hoffnungslose Unterlegenheit im klaren. Sie begnügten sich damit, im September 1991 per Volksabstimmung eine fiktive Unabhängigkeit auszurufen und einen Parallelstaat zu der von Belgrad eingesetzten Provinzverwaltung aus der Taufe zu heben.

Nach den Parlamentswahlen von 1992 war das albanische Kosovo im Besitz sämtlicher Symbole von Staatlichkeit, und der nach demokratischen Ritualen gewählte Präsident Ibrahim Rugova konnte sich ob dieser Leistung und seines Bekenntnisses zur Gewaltfreiheit international als eine Art albanischer Mahatma Gandhi feiern lassen. Die serbische Seite hat dieser Schattenregierung zwar jede Legitimität abgesprochen, sie aber nicht zerschlagen und damit de facto anerkannt.

Ein derart seltsames System von Doppelstaatlichkeit paßt weder so recht zu den großserbischen und großalbanischen Ideologien, noch läßt es sich in Übereinstimmung mit den Maßstäben regulärer moderner Staatlichkeit bringen. Wo zwei Zentren von Staatlichkeit darauf Anspruch erheben, auf demselben Territorium und gegenüber der selben Bevölkerung den Rang der abstrakten Allgemeinheit einzunehmen, ist der Showdown im Prinzip unvermeidlich - egal, ob sich die eine Seite zum Pazifismus bekennt oder nicht.

Das System gespannter Koexistenz beruhte darauf, daß nicht nur die Rugova-Partei IDK durch den Verzicht auf Repressionsmittel ihre Ambitionen zurückschraubte; auch Belgrad - trotz des offiziellen Anspruchs, das Kosovo als Bestandteil Rest-Jugoslawiens zu behandeln - versuchte keineswegs, diese Region und ihre Bewohner auch faktisch in die serbische Gesellschaft zu integrieren.

Die Politik der serbischen Regierung seit der Aufhebung des Autonomie-Status 1989 spricht eine eindeutige Sprache. Mit der Entlassung aller albanischen Schullehrer, Polizisten und Ärzte, mit der Schließung der Universitäten für Albaner hat Belgrad ein Segregationssystem errichtet, in dem die Albaner nicht einmal als billige Arbeitskräfte von Interesse sind. Der Ausschluß von 90 Prozent der Bewohner aus der offiziellen Gesellschaft kann indes nicht funktionieren, ohne daß den als "Eingeborene" Behandelten eigene "Häuptlinge" zugestanden werden. Ist aber die Einrichtung offizieller "Homelands" und damit die Lokalisierung der Pseudostaatlichkeit unmöglich, so müssen sich die Überreste staatlicher Souveränität unter der Hand auf verschiedene Träger verteilen. Unter den vielen seltsamen Regierungen Europas dürfte die des Präsidenten Ibrahim Rugova eine der seltsamsten sein. Das "Staatswesen", dem sie vorsteht, verfügt nicht nur über keinen Repressionsapparat; es operiert auch in seiner zivilen Funktion mit einer geringen Reichweite. Mit dem Scheitern des titoistischen Modernisierungsversuchs ist die Wirtschaft des Kosovo endgültig kollabiert. Durch den Zerfall des jugoslawischen Gesamtstaates von allen Transferleistungen abgeschnitten, hat sich die Ökonomie einer rückständigen Arbeitsgesellschaft in eine Mischung aus Selbstversorgung und mafiotischer Schattenwirtschaft aufgelöst. Der Staat verlor auf diese Weise seine regulären Finanzquellen und Eingriffsmöglichkeiten.

Die Rugova-Administration dürfte in den neunziger Jahren zwar noch immer mehr Mittel von der kosovo-albanischen Bevölkerung abgeschöpft haben als Belgrad; die dreiprozentige Steuer, die sie auf sämtliche Bruttoeinkommen von Kosovo-Albanern im In- und Ausland erhebt, hatte aber stets eher den Charakter einer freiwilligen Spende. Soweit diese Administration an der Aufrechterhaltung eines rudimentären Bildungssystems, eines Gesundheitswesens und anderer Infrastrukturen überhaupt beteiligt ist und solche Aufgaben nicht an die Clan-Strukturen abgetreten hat, bleibt ihr nicht viel mehr als eine gewisse Koordinierungsaufgabe. Ihre Hauptfunktion war stets weniger nach innen als vielmehr nach außen gerichtet. Sie funktionierte als eine Art Propaganda-Abteilung, die das Kosovo auf der internationalen Agenda halten soll.

Wenn heute von der albanischen Seite die Karte des bewaffneten Kampfes ausgespielt wird, so geht dies auf keine dramatische politische Wendung zurück. Die Rugova-Regierung ist bisher weder von ihrem "Friedens"-Kurs abgerückt, noch ist sie von einer anderen politischen Kraft gestürzt worden. Die Freischärler der UCK haben ihr bewaffnetes Vorgehen weniger in Opposition zur "regierenden" LDK begonnen, sondern diese ignoriert.

Dem prekären Frieden zwischen dem Milosevic-Regime und dem Schaukabinett von Rugova entsprach ein Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte im Kosovo, das sich wohl am ehesten als "Pax mafiosa" fassen läßt. Der serbische Staat und die mit ihm verknüpfte Schattenwirtschaft hatten trotz aller großserbischen Phraseologie mit ihren albanischen Konkurrenten zu einem System friedlicher Koexistenz und in einigen bedeutenden Wirtschaftszweigen - wie etwa dem Zigarettenschmuggel - wohl auch zu partieller Kooperation gefunden.

Es waren vornehmlich zwei Faktoren, die diese Ordnung sprengten. Zum einen machten nach dem Ende des Krieges in Bosnien zahlreiche serbische paramilitärische Gruppen, unter anderen die Tiger-Gruppe des Kriegsverbrechers Arkan, das Kosovo zu ihrem neuen Operationsgebiet und provozierten Zusammenstöße. Zum anderen schwand die friedensstiftende absolute militärische Überlegenheit der serbischen Armee- und Polizeikräfte dahin. Seit der Pyramidenrevolution im benachbarten Albanien Anfang 1997, in deren Gefolge die Waffenlager der albanischen Armee leergeräumt wurden, dürfte das Ausrüstungsniveau der UCK sprunghaft angestiegen sein.

Der Westen hat im Kosovo nur ein negatives Interesse. Europa und insbesondere die Bundesrepublik, aber auch Italien möchten von Flüchtlingswellen verschont bleiben. Die "pazifistische" Politik Rugovas hat diesem Bestreben über Jahre hinweg zugearbeitet und traf dementsprechend auf Wohlwollen. Diese Dankbarkeit hat den Westen indes nie dazu verführt, sich das Anliegen einer Unabhängigkeit des Kosovo zu eigen zu machen. Indem die UCK die militärische Karte spielt, hat sie schon eher Aussichten, Nato und EU für ihre Zwecke zu gewinnen. Es dürfte wesentlich vom Vorgehen der serbischen Militärs und Paramilitärs abhängen, ob die Abwehr kosovo-albanischer Flüchtlinge die Form einer militärischen Intervention annimmt oder ob der Konflikt mit niedriger Intensität weiter vor sich hin köchelt - in jedem Fall verweist er auf die Perspektivlosigkeit aller Beteiligten.

Ernst Lohoff veröffentlichte 1996 im Horlemann-Verlag, Bad Honnef, die Studie "Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung".