Nach uns die Sintflut

Ein Jahr nach dem Hochwasser: Höhere Deiche, Häuser und Wellen an der Oder - und die Diskussion wird von antipolnischen Ressentiments bestimmt

Familie Eger hat sich ein Hochhaus gebaut. Das einzige Hochhaus in der Ziltendorfer Niederung. Es besteht aus einem Keller aus wasserundurchlässigem Beton auf normaler Erdgeschoßhöhe, einem angeschütteten Hügel drumherum und dem Fertighaus im Schwarzwaldstil obendrauf. Wenn die Oder sich das nächste Mal ihre angestammten Überschwemmungsgebiete zurückholt, soll die Wohnung trocken bleiben. Damit das Hochhaus nicht wie weiland der Bonner Schürmann-Bau durch das Wasser solchen Auftrieb bekommt, daß es noch höher und vielleicht ein bißchen schiefer in der Niederung steht, muß der schöne Keller dann rechtzeitig geflutet werden. Vor einem Jahr ist das Hochwasser an der Oder abgelaufen. Am 25. Juli pflanzten im Rahmen einer Dankesfeier Bundeskanzler Helmut Kohl, Brandenburgs Umweltminister und Hochwasser-Star Matthias Platzeck und der "Hochwassergeneral" Hans-Peter von Kirchbach je eine Linde auf dem Dorfplatz der Ernst-Thälmann-Siedlung südlich von Eisenhüttenstadt. Die dort wohnende zwölfjährige Melanie sprach die Dankesworte an alle HelferInnen und die Regierung. Die Siedlung hatte zusammen mit der gesamten Ziltendorfer Niederung letztes Jahr zwei Meter unter Wasser gestanden.

So schöne Häuser, wie Familie Eger eines ihr eigen nennt, und mancher schnelle Wagen wurde von den zahlreichen Spenden aus der deutschen Bevölkerung gekauft. 135 Millionen Mark kamen zusammen, mehr als zu jeder anderen Gelegenheit, um den Opfern in ihren von der Flut beschädigten 178 Häusern zu helfen. Das wären pro Haus eine runde Dreiviertel Million Mark gewesen. Da fiel es leicht, 75 Millionen Mark der Spendengelder nach Polen und Tschechien zu überweisen. Dort hatte die Oder 700 000 Hektar unter Wasser gesetzt (in Brandenburg waren es 6 000 Hektar) und einige Zehntausend Häuser zerstört. Dutzende Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, und die direkten Sachschäden beliefen sich auf umgerechnet fünf Milliarden Mark. Die brandenburgische Landesregierung rechnete die Hochwasserschäden auf 648 Millionen Mark hoch. Nur 23 Millionen Mark davon sind für die Erneuerung der Deiche verwendet worden, 37 Millionen für Häuser und Hausrat, aber 200 Millionen für den Einsatz von BundeswehrsoldatInnen, deren Sold sowieso gezahlt werden mußte und 328 Millionen Mark für die Sanierung altersschwacher Brücken und Straßen, die während der Schwertransporte des letzten Sommers weiter in Mitleidenschaft gezogen wurden. Oder auch gleich für den Ausbau von Feldwegen zu breiten Straßen, die für notwendig erachtet werden, um bei der nächsten Flut eine bessere Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die ersten Deichbauten des letzten Herbstes wurden übrigens vor kurzem wegen Fehlplanungen bereits wieder abgetragen, um sie noch einmal ganz neu zu bauen. Landwirtschaft und sonstige Privatbetriebe haben 59 Millionen Mark Schaden geltend gemacht - auch hier viel Vorsorge und entgangener Gewinn. So beklagt sich die Märkische Kraftfutter - ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 400 Millionen Mark - darüber, daß die Kosten für Viehtransporte in sichere Gebiete nicht vollständig ersetzt wurden. Fazit: Nur etwa zwölf Prozent der aufgelisteten Schäden sind direkte Hochwasserfolgen.

Von den 37 Millionen Mark Schaden, der an Häusern entstand, mußte die Allianz-Versicherung 14 Millionen übernehmen, da die von dem Konzern übernommenen Policen der staatlichen DDR-Versicherung auch Hochwasserschäden abdecken. Heute könne man sich in 88 Prozent Deutschlands gegen Naturereignisse wie Hochwasser versichern, schreibt die Allianz in ihrem jüngsten Geschäftsbericht. Es sind die Gebiete, in denen kein Hochwasser zu erwarten ist.

Nach vollständigem Ausgleich für alle Privathaushalte blieben noch 37 Millionen Mark an Spendengeldern übrig, die der Landwirtschaft, den Kommunen und dem Straßenbau zuflossen. In den zuständigen Ministerien gab es nach dem Hochwasser durchaus ernsthafte Überlegungen, der Oder die Ziltendorfer Niederung und eventuell das Oderbruch als Überschwemmungsfläche zurückzugeben, um zukünftigen Katastrophen vorzubeugen. In der überfluteten Niederung wäre das naheliegend gewesen. Die Häuser und sämtliche Anlagen dort waren zerstört, die Ernte verloren. Der Deich hätte einfach offen bleiben können, die drei Dörfer wären anderswo wiederaufgebaut worden. Die Gefahr für die Menschen wäre gebannt, die Kosten wärenim Verhältnis zum langfristigen Nutzen sogar gering. Aber es war nicht möglich; aus Angst vor hohen Regreßforderungen wegen der Umwandlung von Bauland und trockengelegtem Ackerland in Feuchtwiesen traute sich die Landesregierung nicht. Hinzu kam die Sorge vor einem Imageverlust der Regierenden. Von dem voreiligen Versprechen von der allumfassenden Hilfe und der sofortigen Rückkehrmöglichkeit in die Heimat führte kein Weg mehr zurück zu einer wirtschaftlich sinnvollen und vorbeugenden Umweltpolitik. Auch ökologisch interessierte Kreisen waren anfangs der Meinung, bei dem "Jahrtausendhochwasser" habe es sich um eine unvermeidbare Naturkatastrophe gehandelt. Ein starker mehrtägiger Regenguß von 500 Litern pro Quadratmeter am Oberlauf der Oder sei nicht vorhersehbar gewesen und nicht durch menschliche Eingriffe hervorgerufen worden. Dagegen sagten ExpertInnen auf dem Jahreskongreß des Bundes der Ingenieure für Wasserbauwirtschaft in Seelow, der rapide Abbau der Waldflächen durch Abholzung und sauren Regen habe einen starken Anteil daran gehabt, daß das Wasser nach den Regenfällen sofort in einer Welle abfloß. Während gesunder Wald 140 Liter Wasser pro Quadratmeter aufnehmen könne, liege Versickerungsfähigkeit im Einzugsgebiet der Oder derzeit nur bei etwa einem Zehntel. Gleichzeitig würden in den Bergregionen immer noch Bäche begradigt. Ohne menschliche Eingriffe in der Regenregion wäre ein Drittel weniger Wasser in dieser Geschwindigkeit die Oder hinabgeflossen. Ohne Flußbegradigung hätte das Hochwasser länger gedauert, wäre aber nicht so hoch gewesen.

Nach Schätzungen von IngenieurInnen auf dem Kongreß wäre die Hochwasserwelle in Brandenburg eineinhalb bis zwei Meter höher gewesen, wären in Polen nicht so viele Gebiete überschwemmt gewesen. Selbst die Flutung der sehr kleinen Ziltendorfer Niederung führte sofort zu einem kurzzeitigen Absinken des Pegels im Oderbruch um 30 Zentimeter. Jetzt legen die polnischen Behörden ein Programm mit der Bezeichnung "Odra 2006" auf. Die Deiche sollen erhöht, die wirtschaftliche Nutzung des Flusses durch Schiffahrt verbessert, Schleusen erneuert und der Flußlauf ausgebaggert werden. Die brandenburgischen Ministerien für Verkehr und Umwelt protestieren heftig. Ein eventuelles neues Hochwasser werde dann noch schneller nach Brandenburg kommen, die Welle werde zwar kürzer, aber höher ausfallen, die neuen Deiche im Oderbruch könnten das nicht aushalten. Der chauvinistische Unterton ist nicht zu überhören: Unsere deutschen Flüsse sind begradigt und für den schnellen Verkehr nutzbar, aber wir brauchen eure polnischen Flächen, die im Zweifelsfall überflutet werden können. Polnische Dörfer und Felder sind nicht so viel wert. Uns in der BRD sind die Hände gebunden, bei euch ist das alles viel einfacher und billiger. Und klärt das bitte vor eurem EU-Beitritt. Soviele antipolnische Ressentiments wurden in dieser Diskussion wachgerufen, daß das brandenburgische Umweltministerium sich bemühte, den Schaden zu begrenzen. Minister Platzeck setzte bei einer Konferenz mit Bundesumweltministerin Angela Merkel und dem polnischen Kollegen im Mai im Badeort Miedzyzdroje ganz auf Verständigung. Gemeinsam könne ein Programm für die Oder entwickelt werden, wie zukünftigem Hochwasser vorgebeugt werden könnte. Beide Seiten müßten prüfen, mit welchen Programmen der beste Schutz möglich wäre. Es gehe dem Minister ausdrücklich nicht um die Umsiedlung polnischer Dörfer, betont sein Sprecher gegenüber der Jungle World. Aber auch Platzeck spricht von den "schwierigen Gesprächen mit der polnischen Seite", bei denen "deren Befindlichkeiten" beachtet werden müssen, da es sich dort um "historisch gewachsene Flächennutzungen" handle.

Die Schaffung weiterer Überflutungsflächen, die Renaturierung der Oberläufe und die Wiederaufforstung im Quellgebiet sei "sauteuer", betont der Pressesprecher des Umweltministeriums. Brandenburg und die BRD seien in der Pflicht zur Mitfinanzierung, da nur das den Hochwasserschutz für die deutschen Gebiete gewährleisten könne. Die benötigten Summen von wahrscheinlich einer oder mehreren Milliarden Mark in den nächsten Jahren könnten nur gemeinsam von der EU und der BRD aufgebracht werden, so die vage Vorstellung des Umweltministeriums. Nur gibt es für eine solche Finanzierung bisher kein Vorbild, und es scheint äußerst unwahrscheinlich, daß diese Gelder fließen werden.

Eine neu gegründete Bürgerinitiative im nördlichen Oderbruch fordert genau dasselbe wie das polnische "Odra 2006": höhere Deiche, ausgebaggerte und schneller fließende Flüsse. Der Spruch "Nach uns die Sintflut" erhält so eine neue, geographische Bedeutung: Die Überschwemmungen sollen doch bitte weiter flußabwärts geschehen.