48. Ein Mord, den jeder begeht

Fortgesetzte Erzählungen

Cosima spielte Empörung. "Aber Doktor Hontheimer!" sagte sie streng. Sie deutete mit dürren Fingern auf die Zeitschrift, die vor ihr auf dem Küchentisch lag. Dann wurde ihr Gesicht wehleidig, und sie sagte klagend: "Wo bist du, mein Siggi?"

"Ist schon gut, Mutter", sagte ihre Schwiegertochter Lioba und ließ das Kartoffelschälmesser sinken. "Guck dir ein anderes Bild an." Cosima redete viel dummes Zeug, wenn der Tag lang war, und das Bild zeigte auch nicht Dr. Siegfried Hontheimer - den Lioba nicht kennen konnte, da sie erst 1969 bei Horwitzens eingeheiratet hatte -, sondern einen namenlosen nackten Schönling, der mit angewinkelten Beinen durch die Milchstraße flog und den Erdball fickte. Er segelte durchs All wie jemand, der eine Rakete im Hintern hat und sich schon auf den Jupiter freut. Seine Zähne glänzten wie Porzellan, seine Unterlippe hing dick und breit herunter und auf der Oberlippe prangte ein üppiger Schnäuzer. Im Hintergrund reichlich Fixsterne in froher Erwartung und breite Schlieren.

Cosimas knöchliger Finger ruhte auf Siggis Skrotum, das an zwei dicken Fäden hing. Seine Geschlechtsdrüsen waren etwa so groß wie Billardkugeln. "Der macht wirklich dumme Sachen", sagte sie und kicherte. Der Wüstling hielt die Weltkugel mit beiden Händen fest und grinste grimmig in die Karibik, während seine Bockwurst zur Hälfte irgendwo im Matto grosso steckte.

"Guck dir ein anderes Bild an, Mutter", sagte Lioba, so wie man zu einem Kind sagt: "Wasch dir die Hände".

Cosima stieß einen bösen Schrei aus, als Lioba ihr das Heft wegnahm, um ein anderes Bild zu suchen, obwohl sie wußte, es gab keine anderen Bilder in dem Heft. Die Zeitschrift war voller muskulöser junger Männer, die sich prächtige Lümmel unter die Schnäuzer oder irgendwo zwischen die prallen Quadranten steckten.

Sie kopulierten zu zweit, zu dritt und in großen Gruppen, peitschten sich mit breiten Gürteln, trugen Stiefel und Uniformmützen, Breeches oder knallenge Jeans, unter denen jeder Glutäus zu sehen war, hatten alle keine Hinterköpfe und dafür dieses Grinsen.

Lioba seufzte. Es war ein schönes, aber eigentlich ziemlich bedeutungsloses Seufzen, das ihr eigentlich nicht zustand. Sobald sie ihre Zofen-Uniform trug - schwarze Strümpfe, hochgeknöpfte Stiefelchen, enges schwarzes Kleid, Tändelschürze und Häubchen -, hatte sie jede Äußerung zu unterlassen, die nach Unzufriedenheit roch, aber da niemand mehr die Einhaltung dieser Hausregel kontrollierte, die ihre Schwiegermutter schon bald nach ihrer Verheiratung mit Willibald verkündet hatte, konnte sie auch mal seufzen.

Sie kreischte immer, wenn man ihr die Riesenschwänze wegnahm. Jeden Vormittag, wenn Lioba die Alte zurechtgemacht hatte, gewaschen, gekämmt, angezogen und gefüttert, holte sie den Packen Altpapier aus der Kammer und legte ihn auf den Küchentisch. Es waren diverse Versandhauskataloge und illustrierte Frauenzeitschriften, die die Nachbarn ihr brachten, damit Cosima etwas zum Anschauen hatte.

Sie schob den Rolli dicht an den Tisch und sagte: "So, Mutter, nun tu mal was für deine Bildung." Cosima sagte eifrig: "Bilderbücher angucken" und begann zu blättern, egal was kam - Carina, Otto, Brigitte, Die Woche. Heft um Heft blätterte sie durch, als suchte sie etwas, sagte höchstens mit fester Stimme mal: "Ich glaube, diese Dame kenne ich", etwa wenn sie auf eine Frau stieß, die gerade demonstrierte, wie man Gurkensalat anrichtet, und legte das Heft beiseite.

Sie schien völlig verblödet zu sein, Altersschwachsinn in höchster Vollendung, doch dem war nicht so. Sobald sie nämlich den Stapel abgearbeitet hatte, ohne ihren Dr. Hontheimer gefunden zu haben, stieß sie einen Kriegsschrei aus, der durch Mark und Pfennig ging.

Das sollte nicht sein. Sie wohnten jetzt, seit das Schloß samt Ländereien und Innenausstattung unter den Hammer gekommen war, im frühereren Gärtnerhaus am Rande des Schloßparks und hatten Rücksicht zu nehmen - auf die Kinder der neuerbauten Mittelpunktschule gleich nebendran, die alerten Medienberater der Sponsor Partners im Haupthaus und überhaupt.

Lioba stammte aus einem Haushalt von ängstlichen Büroangestellten, die das Fenster schlossen, wenn Vater furzte, und die nonchalante Art der Horwitze, sich für nichts und niemand zu genieren, war ihr stets peinlich gewesen. Also holte sie Cosimas Ledermagazin hinter den Töpfen im Schrank hervor, tat so, als hätte sie die Knackärsche nicht absichtlich versteckt und machte sich wieder ans Kartoffelschälen.

Kein Mensch wußte, woher das Magazin stammte. Nicht Liobas Gatte, Willibald, der jetzt als Landwirtschaftsberater schaffte, nicht Cosimas Schwester, Friedelind, die mit ihrem Mann, einem pensionierten Rechtsanwalt namens Dr. Kuhfus, in den Dachgaupen des Gärtnerhauses vermoderte, und Cosima erst recht nicht.

Die tat so, als wäre das Heft ein Familienalbum und hielt alle Männer, egal ob ihr Saftkolben bis ans Kinn reichte oder ob sie von nackten Negern im Urwald einer fetten Dragqueen als Beschäler zugeführt und von Tarzan in letzter Sekunde gerettet wurden, für ihren Liebhaber Dr. Hontheimer, der seit gut 47 Jahren in Altena unter dem Sauerland lag.

Im Grund ihres bigotten, kleingeistigen Herzens hielt Lioba Cosimas Tochter Tita für die Übeltäterin. Tita lebte auf großem Fuß, seit sie einen bayrischen Edelmann namens Max von Arco geehelicht hatte, kam zweimal im Jahr ihre Mutter besuchen und überschüttete sie mit Geschenkkörben vom Feinkost Käfer und abgelegten Trachtenkostümen ihrer Schwiegermutter, die sie Sissi nannte. Tita, der war das zuzutrauen, ihrer wehrlosen Mutter auf ihre alten Tage einen so perfiden Streich zu spielen, der indes auch voraussetzte, daß sie Cosimas undurchschaubare Seele besser kannte als irgendwer sonst in der Familie.

Ja, Tita. Willi und Lioba waren zu ihrer Hochzeit gefahren, im November 1989, das würde sie nie vergessen, weil in den Spätnachrichten kam, daß es in ganz Berlin keine Bananen mehr gab, weil die Ostdeutschen plötzlich alle in den Westen kamen, um sich Bananen zu holen, und Willi sagte ganz ungerührt: "O Gott, Frau, ein Wunder, wenn das mein Vater noch erlebt hätte! Sein Leben hat er gegeben im Kampf gegen den Bolschewismus, und jetzt das!" Das erste Mal nach 20 Ehejahren war es gewesen, daß er mit ihr über die Politik geredet hatte. Tita hatte sie gleichmütig durch das bonforzionöse Stadtschlößchen geführt, das ihr Mann von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte. Sie schritt barfuß durch die Räume, in einem langen fließenden Gewand, als wäre es die reine Selbstverständlichkeit, daß sie eines Tages doch in standesgemäßer Umgebung leben würde, verharrte nirgends, erläuterte wenig, und nur, als sie die Bibliothek betraten, öffnete sie einen der deckenhohen verglasten Bücherschränke.

"Mein verstorbener Schwiegervater", sagte sie mit Emphase, "hatte die größte Sammlung erotischer Inkunabeln in Mitteleuropa. Er hat sie dem Institut zur wissenschaftlichen Erforschung der bayerischen Literatur vermacht, aber Max hat das Legat erfolgreich angefochten." "Was sind Inkunabeln?" fragte Lioba spitz. Tita zog eine zerlesene Zeitschrift aus dem Regal und warf sie mit Schwung auf die Marmorplatte. Sie schlug das Heft auf und sagte: "Das zum Beispiel." Lioba versuchte nicht, durch das Gewirr der Arme, Beine, Bäuche, Ärsche, Hälse, Köpfe, Schwänze, Mäuler durchzusteigen: "Und so was liest ein bayerischer Graf?" fragte sie erschüttert. "Wie du siehst."

Ja, Tita, Tita, aber das war jetzt auch schon egal. Cosima kreischte noch immer wie ein vergilbter Papagei, und Lioba schaute zur Küchenuhr. Der dürre Arm der Greisin zitterte, aber das Heft war für sie unerreichbar. Um zwölf kam Willi zum Mittagessen. Familie Kuhfus kam runter, sie mußte gefüttert werden, ihr mußte man alles hübsch kleinschneiden, und bis dahin wollte Lioba die Sache hinter sich haben. Nie wieder Schmuddelkram in ihrer hübschen kleinen Küche.

Lioba hielt das Ledermagazin so, daß die Finger der Greisin es fast berührten, so wie man einem Hund einen Bissen hinhält: "Da, spring, Hasso, spring."

Die Greisin kreischte, ihr Arm zitterte, in ihren großen Augen lag die Panik des Entsetzens, ihre durchfurchten Wangen glühten vor Todesangst, ihr Atem ging stoßweise, Tränen sprühten von ihren bebenden Lippen und ihr Oberkörper wurde von Krämpfen geschüttelt.

Mit einem Aufschrei, "Siggi, mein Siggi!", der bis ins evangelische Pfarramt zu hören war, warf sie sich über die leere Tischplatte. Sie war tot.

Lioba stand auf, goß das Wasser von den kochenden Kartoffeln, stopfte die Knackärsche ins Herdfeuer und schritt hinaus in die Diele, um das Tamtam zu rühren, das noch aus dem Schloß stammte. Stocksteif stand sie auf einem altersblassen Gebetsteppich und bearbeitete das Metall mit dem Klöppel, wie Cosima es ihr beigebracht hatte, am ersten Tag nach ihrer Hochzeitsreise.

Der erzene Lärm, wild, kannibalisch und übertrieben für seinen Zweck, drang bis ins Städtchen hinüber, lief den Weinberg hinauf und brachte sogar die Glocke der Stadtkirche zum Schwingen. "Mittagessen ist fertig", sagte sie leise, kaum hörbar.

Draußen dieselte ein Benz und Willi stiefelte in die winzige Diele und hängte den Friesennerz an die Garderobe. Angewidert starrte Lioba auf seine strammsitzenden Jeans. "Essen fertig?" Sie nickte. "Wie geht's Mutter?" Lioba öffnete seine Schuhbänder.

"Du wirst es nicht glauben, sie ist am Tisch eingeschlafen."

"Hoffentlich fehlt ihr nichts."

"Dr. Hontheimer ist weg."

"Dann mußt du halt suchen."

Nächste Woche: "Endlich Revolution"