Besuch vom Lande

Alte Freunde

Schlechtes Sommerwetter führt nicht nur zu schlechter Laune, sondern auch dazu, daß die aufs Land gezogenen Freunde ihren lange geplanten Dänemark-Urlaub absagen und statt dessen in die Stadt zu Besuch kommen. Freunde, die man lange nicht gesehen hat, wiederzusehen, ist zwar sehr schön, aber die Freude hält meistens nicht sehr lange. Denn je abgelegener die Gegend ist, in die es sie damals auf der Suche nach Ruhe, Entspannung und naturverbundenem Leben verschlug, umso unternehmungslustiger sind sie jetzt.

"Und wohin gehen wir nun?" lautet ihre erste Frage, kurz nachdem sie um Mitternacht die Wohnung betreten haben. Wohin gehen? An einem Montag? Wo man am nächsten Morgen früh raus und arbeiten muß? Oder noch so schrecklich müde vom Ausgehen am Wochenende ist? So ein Blödsinn! Unternehmungslustige Freunde lassen solche Einwände jedoch nicht gelten, sie wollen Unterhaltung, und die besteht nicht etwa darin, daß man bei einem Glas Wein um den Küchentisch herum sitzt und einander Sachen erzählt, sondern im Herumsitzen, Weintrinken, Sachen-erzählen und Dabei-andere-Leute-angucken.

Wenn man sie nun zur Strafe in die ödeste Kneipe der Stadt schleppt, dann wird sich das auf jeden Fall rächen, denn nicht nur, daß es ihnen dort auf jeden Fall gefallen wird, sie werden auch noch Freundschaft mit den anderen Kneipeninsassen schließen - besonders mit dem Blödmann, mit dem man schon seit Jahren verfeindet ist - und kurz vor Schließung des Lokals alle für den morgigen Tag zum Grillen auf den Balkon einladen. Geht man mit den Freunden dagegegen in die eigene Lieblingskneipe, dann tun sie dort alles, um einen unmöglich zu machen. Sie erzählen unglaublichen Blödsinn, so laut, daß ihn alle anderen mitbekommen, bringen die ganzen peinlichen Geschichten von früher, die man so furchtbar gern vergessen möchte, aufs Tapet und laden kurz vor Schließung des Lokals alle für den morgigen Tag zum Grillen auf den Balkon ein. So enden jahrzehntealte Freundschaften.

Die andere Freunde-Variante ist möglicherweise noch nerviger, denn sie mag es gerne gemütlich. Und gemütlich ist es nicht nur, permanent auf der Couch des Gastgebers zu liegen und sich nur dann zu erheben, wenn der "Das Essen ist fertig!" ruft. Gemütlich ist es für sie grundsätzlich auch, niemals allein zu sein. Deswegen wird man pausenlos verfolgt. Schminken im Badezimmer geht z. B. nicht, weil urplötzlich hinter einem jemand auftaucht, der fragt: "Stört es dich?" und vor dem klaren "Ja!" schon loslegt: "Hab' ich dir eigentlich erzählt?" Ja. Gestern schon. Und vorgestern auch. Und vorletzte Woche am Telefon auch schon, aber das sagt man nicht, denn man ist ja ein netter Gastgeber.

Jetzt ungeschminkt auf die Straße zu fliehen und beim Shoppen zu vergessen, ist auch nicht möglich, denn natürlich möchte der Besuch mit. Um, kaum im Laden angekommen, sofort das dortige Angebot und die verlangten Preise zu kommentieren. "Italienische Salami, wer braucht denn sowas. Deutsche tut's doch auch. Bei den Preisen hier wundert es mich nicht, daß du andauernd pleite bist", ruft der Besuch mit Vorliebe so laut, daß es die nette Verkäuferin, die manchmal Sonderpreise macht, hört. Ihr vorwurfsvoller Blick sagt mehr als tausend Worte. Hier wird man nie wieder einkaufen können. Also zurück nach Hause. Im Fernsehen läuft die Lieblingsserie, aber der Besuch gibt, kaum hat sie angefangen, keine Ruhe: "Hab' ich dir schon erzählt?" Darauf gibt es nur eine passende Antwort: "Von mir aus kannst du jetzt nach Hause fahren!"