Das verlorene Kapital

Gewalt als konkreter Ausdruck der postthatcheristischen Gesellschaft: Der Gangsterfilm "Face" von Antonia Bird

Früher gehörte er zu den Kommunisten, jetzt gehört er zu den Faces: Ray (Robert Carlyle) und seine Gang haben sich auf bewaffnete Raubüberfälle bzw. die Umverteilung des Geldes spezialisiert. Nach ihrem letzten Coup, dem minutiös geplanten Überfall auf ein Finanzdepot, teilen sie ihre Beute auf. Alles nach Plan, bis Bandenmitglied Dave (Ray Winston) am frühen Morgen angegriffen und beraubt wird. Irgend jemand hat die Spielregeln gebrochen, und dieser jemand ist ein Face. Die Wiederbeschaffung der Beute wird zur Wahnidee. Zwar ist es unwahrscheinlich, daß sie es auftreiben können, und selbst wenn, es würde keine Rolle mehr spielen.

Regisseurin Antonia Bird, schon für den Film "Die Priesterin" mit Preisen überhäuft, hat aus dieser recht einfachen Story einen stringent erzählten Schauspielerfilm gemacht. "Face" ist zugleich ein spannender Thriller, dicht am Milieu ausgeführtes New British Cinema. Daß Gewalt bei Bird eine wichtige Rolle spielt, hat die Kritik aufmerken lassen. Bird ist bekennender Scorsese-Fan: "Es gibt viel Designer-Gewalt im Kino, und ich hasse sie (...). Er (Scorsese) glorifiziert Gewalt nicht. Scorsese zeigt, wie lebenszerstörend Gewalt ist - was sie den Leuten antut." In "Face" geht es allerdings weder um das Böse an sich (wie bei Scorsese) noch um das Design des Bösen (wie bei Tarantino), sondern Gewalt ist konkreter Ausdruck der post-thatcheristischen Gesellschaft, und das Scheitern der Faces gehört zum politischen Programm.

Robert Carlyle, den man bereits aus "Trainspotting" und "Ganz oder gar nicht" kennt, halluziniert sich diesmal in die Rolle des Banden-Chefs Ray hinein, verleiht ihm diese unglaubliche Lethargie, die seinem Zusammenbruch vorausgeht. Ray kann es nicht schaffen, seine Beute zurückzuholen, und wenn doch, wird er nicht wissen, wie es weitergehen soll. Die Ahnung seiner Niederlage scheint er von der ersten nachtdunklen Einstellung an zu haben. Scheitern als Déjˆ-vu-Erlebnis: In Rückblenden erfährt man von Rays Vergangenheit und seiner Verfolgung als politischer Aktivist, die er als Banden-Chef Ray ein zweites Mal erlebt, ebenso wie das Scheitern gewaltsamer Interventionen. Das Leben ist den Faces davongelaufen. Aus ihrer Perspektive ist jeder ein potentieller Spitzel.

Der Soundtrack dazu, wird er nicht gerade von Paul Weller und The Clash besorgt, versetzt London in die Polarzone. Nur in den sozialen Zusammenhängen des East End finden die Loser noch so etwas wie Halt. Und natürlich bei der Freundin.

Man merkt es dem Film beinahe schon an, daß Regisseurin Antonia Bird seit Jahren im East End lebt und ebenso genau wie liebevoll auf dieses Milieu blickt. "Mit den Leuten aus der Gegend kannst du ein Bier trinken gehen - dann erfährst du schnell, wie alltäglich Verbrechen sind." Eine ähnliche Erfahrung machte Drehbuchautor Ronald Bennett. Als Untersuchungsgefangener in Brixton freundete er sich flugs mit den anderen Insassen an: "Damals gab es eine Menge bewaffneter Raubüberfälle. Mit diesen Leuten habe ich Karten gespielt und Tee getrunken und irgendwann verstanden, wie sie leben." War anfangs eine Detektivgeschichte in Auftrag gegeben, schrieb er das Buch zur Gangsterstory um: "Seit den Tagen in Brixton fällt es mir ziemlich schwer, die Welt aus der Sicht eines Polizisten zu sehen." Bizarr, daß "Face" keinen größeren Verleih gefunden hat.

"Face". GB 1998. R: Antonia Bird. Start: 13. August, Berlin, fsk