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Ein Rechter, der schlecht davon lebt, einmal ein Linker gewesen zu sein: André Glucksmanns "Das Gute und das Böse"

Es könnte ganz sympathisch sein, daß André Glucksmann den Schriftstellern vorwirft, sie säßen "in einer Art goldenem Käfig" und sorgten für "die Unterhaltung am Sonntag". Das könnte heißen: Der Schriftsteller André Glucksmann hat Skrupel. Er weiß nicht, ob das, was er zu sagen hat, auch wert ist, aufgeschrieben zu werden. Er fragt sich, ob das was er aufschreibt, zu mehr reicht, als bloß dazu, die Rolle eines Schriftstellers auszufüllen.

Es ist dann doch eher unsympathisch, denn André Glucksmann hat in seinem Buch "Das Gute und Böse - Ein französisch-deutscher Briefwechsel" nichts zu sagen.

Und auch Skrupel dürfte André Glucksmann kaum haben. Denn André Glucksmann ist seit über zwanzig Jahren das Musterbeispiel eines Schriftstellers, der sich im "goldenen Käfig" gut eingerichtet hat, der vom Betrieb zu leben weiß, weil er genau das schreibt, was der Betrieb zum Leben braucht.

Das begann Mitte der siebziger Jahre, als André Glucksmann, ehemaliger Aktivist der KPF und der Gauche Prolétarienne, sich plötzlich als Antikommunist entpuppte. Weil Hegel und Marx, schrieb er in "Die Meisterdenker", die Gesellschaft als Ganzes, als Totalität begriffen hätten, sei ihr Denken totalitär, eine philosophische Vorbereitung des sowjetischen Lagersystems.

"Neue Philosophie" nannte sich diese Wandlung eines Linksradikalen zum radikalen Kritiker der Linken. Neu daran war nicht, was André Glucksmann und seine Mitstreiter - der bekannteste war Bernhard-Henry Lévy - sagten. Es hatten ja die Rechten schon seit Jahrzehnten nichts anderes gesagt. Neu und von hohem Marktwert war, daß es nun Linke gab, die sagten, was die Rechten schon immer gesagt hatten.

Diese Haltung des professionellen Renegaten, des Rechten, der davon lebt, einmal ein Linker gewesen zu sein, behielt André Glucksmann bei: Ob er in den achtziger Jahren, zu den besten Zeiten der Friedensbewegung, eine "Philosophie der Abschreckung" schrieb oder in den neunziger Jahren Nato-Truppen nach Jugoslawien schicken wollte.

Doch inzwischen hat diese Haltung ihre Exklusivität verloren. Eher wie die Beschreibung einer ganzen Generation als eines seltenen Einzelschicksals liest sich der Hinweis, mit dem der Verlag auch für André Glucksmanns aktuelles Buch wirbt: "Ursprünglich Anhänger der 68er Linken, wandte er sich schon früh gegen jede Verharmlosung des kommunistischen Regimes und gegen jede Art totalitaristischer Ideologie." Kaum ein Alt-68er würde heute etwas anderes von sich behaupten.

Vielleicht deswegen gibt André Glucksmann vor, den Betrieb nicht mehr bedienen zu wollen: Es soll nicht auffallen, daß André Glucksmann nicht weiß, womit er den Betrieb noch bedienen kann.

Denn welchem Kritiker wird auffallen, daß in einem Buch nichts drinsteht, wenn ihm dessen Autor versichert, daß in den meisten Büchern nichts drinsteht? Das stimmt, werden die meisten Kritiker sagen. Aber es gibt auch Ausnahmen. André Glucksmann zum Beispiel ist gewiß eine, und irgendwas schon drin in und dran an seinem Buch.

Was das ist, darf geraten werden. André Glucksmann gibt drei Hinweise, gut plaziert, nicht schwer zu finden. Sie stecken im Titel, im Untertitel und im ersten Satz des Buchs.

"Das Gute und das Böse": Es geht ums Ganze, um Philosophie, um Moral, um die großen Fragen der Menschheit.

"Ein französisch-deutscher Briefwechsel": Es geht um das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, um die europäische Einheit, um den Euro. Um Fragen also, die den Experten Kopfzerbrechen bereiten und denen man deshalb einmal auf ganz unkonventionelle Art begegnen sollte: Man stelle sich zwei Intellektuelle vor, ein Deutscher, ein Franzose, der eine sitzt in Berlin, der andere in Paris, die beiden schreiben sich Briefe und versuchen, was gar nicht so leicht ist, einander zu verstehen.

"Hitler bin ich", der erste Satz: Wie in jedem Buch von André Glucksmann geht es auch in "Das Gute und das Böse" darum, Tabus zu brechen, zu provozieren, zu schockieren.

"Hitler bin ich" überschreibt der Focus-Kritiker seinen Text, für den er eigens nach Paris gefahren ist: "Das Kind jüdischer Eltern identifiziert sich mit dem Judenmörder par excellence (...). Muß Ihr Geständnis nicht einen Schock auslösen?" Genau das soll es.

Muß es aber nicht, denn das intime Geständnis, daß Adolf Hitler André Glucksmann ist, löst sich schnell, eine halbe Seite weiter unten, ins allgemein Menschliche auf: "Sich fragen, wie Hitler möglich war, heißt Europa zu befragen, das ihn möglich gemacht hat. Das heißt uns selbst." Oder, zwei Seiten weiter hinten: "Die Gleichartigkeit zwischen Hitler und mir veranlaßt weniger dazu, ihn besser darzustellen, als er war, eher kommt der Verdacht auf, daß ich in mir ein Übel trage, das ich nicht kennen will." "Hitler bin ich", das soll tatsächlich nicht mehr heißen als die Binsenweisheit, die es im schlimmsten Fall heißen könnte: Das Böse ist immer und überall, also auch in mir, es gibt wenig Leute, die sich das eingestehen wollen, gerade darauf aber käme es an, nämlich nicht immer nur den Splitter im Auge des anderen zu sehen, sondern den Dreck vor der eigenen Tür wegzukehren.

Die Kritiker von taz und Tagesspiegel beschäftigen sich lieber mit Europa-Angelegenheiten.Beide steigen mit demselben Zitat ein: "Nie waren sich Frankreich und Deutschland wirtschaftlich so nahe, und nie standen sie sich kulturell gesehen so fremd gegenüber." Vom "deutsch-französischen Unverhältnis" ist denn auch in der taz die Rede. Und der Tagesspiegel-Rezensent stellt fest: "Glucksmann trifft ins Schwarze, wenn er die Ödnis der deutsch-französischen Kulturbeziehungen beklagt." So sei es bezeichnend, daß Helmut Kohl und Jacques Chirac sich nicht ohne Dolmetscher verständigen können.

Die Hilflosigkeit des Rezensenten, der die Verständnisprobleme zwischen Deutschland und Frankreich an den Verständigungsschwierigkeiten zwischen Staatsoberhäuptern festzumachen versucht, spiegelt die Ratlosigkeit des Autors, dem sein Thema abhanden gekommen ist.

Als es den Kommunismus noch gab, war der Ex-Kommunist André Glucksmann ein gefragter Experte. Jetzt gibt es den Kommunismus nicht mehr, statt dessen gibt es die Europäische Union: Was soll André Glucksmann dazu schon sagen?

Er versucht, genau das zu sagen, wovon er glaubt, daß es von einem weltoffenen, der Gegenwart zugewandten Philosophen erwartet wird: Das deutsch-französische Verhältnis, die europäische Einheit - das darf man nicht den Ökonomen überlassen. Das rührt an tiefere Fragen, an Kultur, an Ethik, an Moral und Sitte.

Fragen, zu denen - André Glucksmann ist belesen - auch Platon, Voltaire, Racine, Leibniz, Goethe, Montaigne, Nietzsche und vielen anderen großen Geistern eine Menge eingefallen ist.

Darauf springt am ehesten noch der Kritiker der Berliner Zeitung an, der sich an eine Deutung des Buchtitels wagt. Die Deutschen mit ihrer "philosophischen Tradition von Optimismus und Idealismus" hätten das Böse stets verleugnet, in der "klassischen französischen Tragödie" hingegen sei es schonungslos ausgesprochen. "Glucksmann plädiert für das Schwarzsehen." Mehr ist aus André Glucksmanns "Das Gute und das Böse" beim besten Willen nicht herauszulesen. Denn eigentlich geht es André Glucksmann nicht um das Gute und nicht um das Böse, nicht um die deutsch-französischen Beziehungen und auch nicht um Adolf Hitler.

André Glucksmann geht es darum, seinen Senf dazugeben zu können, jetzt und in Zukunft. Wozu, das ist nicht so wichtig. Wichtig ist: André Glucksmann ist immer noch da. Er hat ein Angebot zu machen, mal schauen, wie es mit der Nachfrage aussieht.

So ist "Das Gute und das Böse" in der Hauptsache ein Bewerbungsschreiben. Ein sehr ausführliches, ein extrem aufgeblähtes Bewerbungsschreiben.

Ein Bewerbungsschreiben, das nicht bei jedem angekommen ist.

Das Buch sei eine "schrille Kakophonie aus Abstrusitäten, Monstrositäten, Gemeinplätzen und kleinen Teilwahrheiten", schreibt Jürgen Ritte in der Neuen Zürcher Zeitung. Es bleibe "auch dem Leser, der tapfer bis zur letzten Seite durchhält, schleierhaft, worauf Glucksmann mit dieser Selbstbefragung nach der 'Seele Europas' hinauswill".

Und Rudolf Walther, der Kritiker der Zeit, hat einen Vorschlag: Warum heißt das Buch eigentlich "Das Gute und das Böse"? Ein mindestens genauso guter Titel wäre doch: "Über Gott und die Welt an Seine und Spree."

André Glucksmann: Das Gute und das Böse. Ein französisch-deutscher Briefwechsel. Claassen, Hamburg 1998, 412 S., DM 48