Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Gustav Seibt ist Redakteur bei der Berliner Zeitung

Zu der Zeit habe ich wohl Vokabeln gebüffelt. Bei der Weltmeisterschaft 1974 habe ich das Endspiel am Radio verfolgt, während ich meine griechischen Vokabeln paukte. Wir waren schon damals weniger Fernsehgucker, sondern Zeitungsleser. Meine Eltern hatten gar keinen Fernseher, und sie haben bis heute keinen. Man hat also die WM-Sendungen im Radio abgehört, und am nächsten Tag wurden dann die Berichte darüber in der Süddeutschen gelesen. In meiner Klasse gab es acht Familien ohne Fernseher. Daran sieht man, wie soziologisch untypisch das war. An das Sparwasser-Tor selbst kann ich mich nicht mehr erinnern, das habe ich erst hinterher realisiert. Ich absolvierte damals die neunte Klasse eines altsprachlichen Gymnasiums in München. Die Schule war konservativ und galt als anspruchsvoll. Ich hatte das erste Jahr Griechisch, da mußte man viel arbeiten. Und ich war gut in Griechisch, ehrgeizig, und habe alles auf Karteikarten geschrieben. Das Endspiel war, glaube ich, an einem Samstag, am Montag hatten wir Schulaufgaben. Ergo habe ich am Wochenende Griechischvokabeln gebüffelt. Ich erinnere mich noch gut an diesen heißen Sommernachmittag. Ich habe die Spiele mit Gerd Müller mit großer Spannung verfolgt, weil mein Onkel damals Leibarzt der FC Bayern-Mannschaft gewesen ist. Meine Cousine, die sehr hübsch war, führte hintereinander zwei Ehen mit Fußballern. Aber das hat sich alles erst später entwickelt.

In dem Jahr hatte ich nur gute Noten. Ich habe ausschließlich 14, 15 Punkte gemacht, d.h. Punkte gab es da noch nicht, aber auf jeden Fall nur Einsen und vielleicht mal eine Eins minus. Wir waren damals eine etwas ätherische Schulklasse; was nicht nur an dem Gymnasium, sondern vor allem an der Klasse lag. Wir kultivierten einen internen intellektuellen Wettstreit, wer die schwierigsten Bücher las und die wissenschaftlichsten Interessen vorweisen konnte. Nicht streberhaft, sondern eher die Lehrer überflügelnd und fordernd und verhöhnend. Alles ein bißchen verkrampft, das typische Jungen-Schule-Klima. Für die damalige Generation war das überhaupt nicht typisch. Das ganze spielte sich ja in Bayern ab, noch vor jeglicher Schulreform. Heute gibt es sowas gar nicht mehr.