Antlitz ohne Eigenschaften

Prager Frühling 68: Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Eine Totgeburt wird 30

30 Jahre und ein bißchen leise. Gerade in jener Stadt, die vor 30 Jahren Kulisse des politischen Frühlings war, merkt man nicht viel vom bedeutungsschwangeren Jubiläum. Die maßgeblichen bürgerlichen Medien schweigen das Thema praktisch tot, die Jubiläumsfeierlichkeiten werden in kleinem Rahmen stattfinden. Nur im westlichen Ausland ist Prag '68 noch ein Thema.

Lothar Bisky und andere PDS-Funktionäre fühlten sich vor wenigen Tagen bemüßigt, sich beim tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel und beim slowakischen Defacto-Diktator Vladimir Meciar für die Beschlüsse der damaligen DDR-Staatspartei SED und die Folgen zu entschuldigen. In einem langen Brief an Havel und Meciar trauerte die PDS-Spitze um die "Chance für eine tiefgreifende Umgestaltung des Realsozialismus" und beklagte die Rolle der DDR.

Auch wenn Havel und Meciar den Brief aus Berlin in den nächsten Tagen erhalten werden - die Tränen werden sie sich verkneifen können. Denn beide Staatsmänner stehen nicht unbedingt in der Tradition der klassischen 68er-Revoluzzer von Prag. Vladimir Meciar betätigte sich nie als Regimekritiker und gründete in der Slowakei ein eigenes Regime, und Vaclav Havel Nähe zu den Reformen von Alexander Dubcek zu unterstellen, ist ignorant. Heute gehört Vaclav Havel vollends zur Polit-Manager-Riege, die Tschechien regiert, und hat sich von seinen Bürgerrechtler-Allüren, die ihn Ende 1989 immerhin in den Präsidentenpalast am Hradschin katapultierten, längst verabschiedet.

Auch Havels Engagement während der heißen Prager Augusttage des Jahres 1968 war alles andere als eine Unterstützung für die Kommunisten rund um KP-Chef Alexander Dubcek, die eine Reform von oben durchführen wollten: Es war der Widerstand gegen die imperialistische Einmischung durch die Panzer aus der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten. So fühlten viele, die sich in den Tagen nach dem Einmarsch am 20. August in den Straßen Prags den Panzern entgegenstellten, Blumen in die Geschütze steckten oder die Straßenschilder in Prag entfernten, um die Truppen zu verwirren.

Schließlich war Alexander Dubcek alles andere als ein revolutionärer Heißsporn, sondern eher ein Pragmatiker, der die Macht der KPC natürlich durch Minimal-Kompromisse aufrechterhalten wollte. Besonders in den letzten Lebensmonaten des Prager Frühlings wurde Dubcek die bürgerlichen Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr los. Schicksalhaft war etwa das "Manifest der 2 000 Worte", das 70 Künstler, Wissenschaftler und Sportler am 27. Juni 1968 veröffentlichten. Darin wurde eine Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses gefordert. Die Staats- und Parteiführung konterte am 5. Juli 1968 mit einem "Manifest der 1 000 Worte".

Darin wies die Führung den Vorwurf zurück, die Demokratisierung sei zum Stillstand gekommen und ausländische Mächte würden sich in der Tschechoslowakei einmischen. Natürlich hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon ausländische Mächte eingemischt. Leonid Breschnew hatte am 3. Juli während eines sowjetisch-ungarischen Freundschaftstreffens abermals die "Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Gemeinschaft" beschworen. Am 14. und 15. Juli 1968 beschlossen die Führungen von fünf Warschauer-Pakt-Staaten, eine scharfe Warnung an die CSSR zu richten.

Damit befand sich Dubcek und sein Reformer-Team endgültig in einem Dilemma, aus dem es kein Entrinnen mehr gab: Die Tschechoslowaken galoppierten ihm mit ihren Forderungen nach einer vollständigen Demokratisierung und einem Verlassen der "sozialistischen Gemeinschaft" davon, die Kollegen aus dem Osten wollten die CSSR in jene Gemeinschaft zurückholen. Bloß in einem waren sich Tschechoslowaken und die Sozialismus-Profis aus den Warschauer Pakt-Staaten einig: Sie hatten vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" genug.

Zudem verurteilte ein Mißverständnis das Reformprojekt Alexander Dubceks zun Scheitern: Er sah den "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" als Abschluß seiner angestrebten Reformen, die Bevölkerung aber als Beginn.

Der Eifer der Tschechoslowaken rührt auch von besonders schmerzhaften Erfahrungen mit den Vorgängern Dubceks. Während die meisten anderen Ostblock-Staaten die Entstalinisierung in der Sowjetunion als direkte Folge des 20. Parteitages der KPdSU 1956 längst für sich übernommen hatten, schaffte es die KPC, sich jahrelang dem Wunsch von Nikita Chruschtschow zu entziehen. Die Chruschtschowsche Light-Version des real existierenden Sozialismus kannten die Tschechoslowaken nicht und waren nun durch die Versprechen Alexander Dubceks umso begieriger darauf.

Dabei war es mehr Not als Tugend, die Dubcek zu so viel Reformwillen beflügelte. Die Wirtschaft der CSSR lag zumindest seit Beginn der sechziger Jahre in tiefer Lethargie, von der angeblichen Hausse in anderen sozialistischen Staaten war kaum etwas zu spüren. Deshalb waren es auch zaghafte Reförmchen auf wirtschaftlicher Ebene, mit denen Dubcek aufhorchen ließ. Die anschließend ausgegebene Devise, den Staatssozialismus von einem Befehls- in ein Partizipationssystem umzumodeln, war eine direkte, wenn auch nicht unbedingt beabsichtigte Folge der wirtschaftlichen Liberalisierung.

Zumindest gegen die Aufpäppelung der rigorosen Planwirtschaft hatte Breschnew zu Beginn der kurzen Ära Dubcek nichts einzuwenden. Nachdem Dubcek am 5. Januar zum Generalsekretär der tschechoslowakischen KP berufen worden war, flog er Ende Januar nach Moskau und ließ sich seine Absichten von Väterchen Breschnew absegnen.

Erst im April 1968 zog sich Dubcek durch eine weitreichende interne Demokratisierung der Machtstrukturen der KP den Unmut der Moskauer Obergenossen zu. Doch damit hatte Dubcek zu Beginn gar nicht gerechnet. Er verharrte in der lllusion, sein menschlicher Sozialismus sei auch im Sinne Moskaus und überhaupt der furiose Schlußpunkt einer zähen Sozialismus-Entwicklung. Es kam den CSSR-Reformern gar nicht in den Sinn, die Interessen Moskaus lediglich in der Absicherung ihres Einflusses in den Satellitenstaaten zu orten. In Prag meinte man ernsthaft, eine Vorreiterrolle für die gesamte sozialistische Hemisphäre einzunehmen, und rannte lächelnd und stolz ins offene Messer der Genossen.

Auch im restlichen Ausland war der Reformprozeß zwischen Prag und Kosice und Brno und Ostrava nicht wirklich populär. So hegte der Chef der österreichischen Sozialisten und später legendär gewordene Bundeskanzler Bruno Kreisky ernsthafte Zweifel an den hehren Motiven Dubceks. Zu seinen Parteikollegen meinte Kreisky damals: "Verabschiedet euch von der Illusion, daß es einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz geben kann. Wenn der Kommunismus menschlich wird, ist er keiner mehr."

In Tirana, wo Enver Hoxha einen beängstigend reinen "Sozialismus" testete, sah man das ähnlich. Der Rundfunk von Tirana erging sich 1968 in Tiraden gegen Dubcek und die Moskauer Okkupanten. Das ambitionierte Reformprojekt Prager Frühling wurde ebenso als opportunistische Spielart von Sozialismus betrachtet wie die Drohgebärden aus Moskau. Beide Varianten hätten nur im Sinn, Einfluß zu sichern.

Dabei steckte in der Formel vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz gerade die eigenartige Konzeption der Reformkommunisten: Der verstaatlichten - keineswegs vergesellschafteten - Produktion wurde ein liberaler und demokratischer Überbau übergestülpt. Damit konnte die Intelligenz befriedigt und funktionalisiert werden, die davon ausging, daß Sozialismus und individuelle Freiheit des bürgerlichen Individuums keineswegs unvereinbar waren. Ein Schritt in Richtung Kommunismus hätte nur durch eine eigenständige Aktion der Arbeiter gemacht werden können - die aber blieb aus.

Wenn sich in Prag am kommenden Donnerstag der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes zum 30. Mal jährt, wird wieder eine Gruppe Unverbesserlicher am Prager Vaclavské naméstie stehen und vielleicht ein paar Kerzen anzünden. Dabei werden sie unter sich bleiben, und kein Politiker wird sich in ihre Nähe verirren. Denn was 1968 in Prag galt, gilt heute umso mehr: Vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" haben die Tschechen genug, und die damaligen emanzipatorischen Attitüden einer freien Bürgergesellschaft haben sie schnurstracks in die pure Marktwirtschaft ohne Antlitz geführt. Das kommt davon.