Großer Bahnhof in Bad Kleinen

Mit einer Schadensersatzklage gegen das Bundesinnenministerium bringen die Eltern von Wolfgang Grams den mutmaßlichen Mord an ihren Sohn noch einmal auf die Tagesordnung

Ortstermin: Bad Kleinen, Bahnsteig 3-4, Freitag, 14 Uhr. Eine schrille Frauenstimme dröhnt aus dem Lautsprecher: "Bitte Vorsicht an Gleis drei. Es findet eine Einfahrt statt." Die rund 50köpfige Menge tritt ordnungsgemäß einen Meter zurück. Vor allem Reporter und Reporterinnen sind es, die dem Pulk von Juristen auf der gepflasterten Plattform hinterhertrotten. Auch einige Schaulustige freuen sich über die Abwechslung, die das kleine Spektakel in den Alltag der Mecklenburger Provinz bringt. Selbst die örtliche Kurzhaarfraktion stellt eine Delegation. Und "Genosse Werner" bringt noch ein paar Dosenbier mit. "Ey Werner, hier gibt's was zu löschen", ruft ein Mittfünfziger und starrt auf die Gleise.

Wären hier am 27. Juni 1993 nicht die RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams von einer Antiterror-Einheit überwältigt worden, wer hätte jemals Notiz von der Gemeinde zwischen Wismar und Schwerin genommen? So aber ist Bad Kleinen für Linke zum Inbegriff für Todesschuß-Fahndung und Polizeistaat geworden. Und für Verteidiger des Rechtsstaates zum Betriebsunfall.

Von der "kritischen Öffentlichkeit" ist jedoch am vergangenen Freitag nichts zu sehen. Keine Transparente, auf denen die "Mörder von Wolfgang Grams" angeklagt werden, keine Kundgebung, nur die üblichen Weisheiten schaulustiger Schmalspur-Kommentatoren. Und noch einer fehlt - zumindest vorerst. "Wäre natürlich schön, wenn Herr Dax auch käme", sagt der aus Bonn angereiste Richter Heinz Sonnenberger leicht süffisant. Dr. Günter Dax, dessen grün-getönte Sonnenbrille und blondes Haar unweigerliche Assoziationen zu Luis Trenker und Heino wecken, ist Rechtsanwalt. Er verteidigt das Bundesinnenministerium.

Gegen die Bonner Behörde haben die Eltern von Wolfgang Grams in einem Zivilrechtsverfahren auf die Erstattung der Beerdigungskosten von 12 305 Mark geklagt. Mit finanziellen Interessen hat die Sache jedoch wenig zu tun. Der ungeklärte Tod ihres Sohnes soll noch einmal juristisch verhandelt werden, damit vielleicht doch noch die Wahrheit ans Licht kommt. Das Ehepaar entschloß sich zu diesem Schritt, nachdem das Rostocker Landgericht im März 1996 eine Anklageerhebung gegen die GSG 9-Beamten abgelehnt hatte. Seit Juni 1996 läuft nun das Zivilverfahren wegen "schuldhafter Amtspflichtverletzung".

Auf Bahnsteig 3-4 wird gemunkelt, Herr Dax sei verärgert. Vielleicht auch beleidigt. Denn am Vormittag mußte sich der Jurist mächtig über seine Gegner, die Anwälte der Familie Grams, aufregen. Nicht einmal den Richter Sonnenberger, dessen Bonner Erste Zivilkammer zwei Tage in den Räumen der Schweriner Justiz zu Gast ist, wollte er ausreden lassen. Der Hintergrund: Die Grams-Verteidiger hatten einem von ihm berufenen Zeugen widersprüchliche Angaben vorgeworfen. Schon der Vortag war für Herrn Dax nicht optimal verlaufen. Zeugen hatten ihre Aussagen aus früheren Vernehmungen wiederholt, die der Selbstmord-Version entgegenstehen.

Die Selbstmordversion ist jene, auf die sich die Bundesregierung in ihrem Abschlußbericht vom Frühjahr 1996 festgelegt hatte. Demnach flüchtete Grams vor der Festnahme im Fußgängertunnel die Treppe hinauf zum Bahnsteig 3-4. Innerhalb von etwa fünf Sekunden soll er dann zehnmal geschossen und dadurch den Grenzschützer Michael Newrzella getötet haben. Oben angekommen, sei er - durch fünf Schüsse selbst schwer verletzt - rückwärts auf das Gleis gestürzt. Dort soll er sich dann angesichts seiner aussichtslosen Lage mit einem aufgesetzten Schuß in die Schläfe umgebracht haben - eine These, die sogar Experten des Bundeskriminalamtes für sehr gewagt halten. Sie haben starke Zweifel, daß sich ein Schwerverletzter innerhalb von Sekunden zum Selbstmord entschließen und diesen auch durchführen kann.

Wurde die ganz konspirativ "Weinlese" genannte Aktion 1993 zunächst als erfolgreicher Einsatz gegen die RAF gefeiert, so sollte sie für die Antiterror-Spezialisten schnell zum Bumerang werden. Die Aussagen der Kioskverkäuferin Johanna Baron sowie die eines bis heute unbekannten am Einsatz beteiligten Beamten gegenüber dem Spiegel legten die Vermutung nahe, daß der GSG 9-Mann mit der Codenummer 6 Grams durch einen Kopfschuß hingerichtet hat, als dieser wehrlos auf den Gleisen lag. Zwar mußten in der Folge Innenminister Rudolf Seiters (CDU), Generalbundesanwalt Alexander von Stahl und führende BKA-Beamte ihren Hut nehmen, die zahlreichen Ungereimtheiten wurden allerdings nicht aufgeklärt.

Im Gegenteil: Die mit den Ermittlungen beauftragte Schweriner Staatsanwaltschaft erklärte, die Angaben der beiden Zeugen seien "in ihren zentralen Aussagen unglaubwürdig". Was jedoch die 22 in Bad Kleinen beteiligten Grenzschützer über den Einsatz zu erzählen hatten, wollten sie nicht in Zweifel ziehen. Dabei berichtete ein Schweriner Ermittler, die Beamten hätten "mit phantasievollsten Begründungen" nichts gesehen. Ganze Arbeit leistete auch die Spurensicherung: Hände und Gesicht der Leiche ließ sie so reinigen, daß alle Spuren, die einen Mord hätten aufklären können, vernichtet wurden. Andreas Groß, Anwalt der Familie Grams, spricht von einer "systematischen Beweismittelvernichtung".

Dennoch scheint man sich im Innenministerium seiner Sache auch heute noch sicher. Keiner der eingesetzten Grenzschützer ist zum Ortstermin geladen. Regierungs-Verteidiger Dax, der mittlerweile doch den Weg vom Schweriner Gericht zum Ortstermin auf den Bahnsteig vom 20 Kilometer entfernten Bad Kleinen gefunden hat, gibt sich mit drei Entlastungszeugen zufrieden. Im Gegensatz zu den von den Eltern bestellten Zeugen will sich ein 39jähriger Mann aus Wismar an eine "deutliche Pause" zwischen dem Sturz Grams' und dem Hinzukommen zweier GSG 9-Männer erinnern. Daß sich jedoch Grams genau in dieser "Pause" erschossen hat, kann auch er nicht bestätigen. Denn Schüsse habe er in dieser Phase nicht gehört. Anwalt Groß betrachtet den Zeugen, der sich erst nach einem Beitrag des ARD-Magazins Monitor bei der Polizei gemeldet hatte, mit Skepsis. Schließlich sei er erst einige Tage später gekommen, weil ihn der Titel "Die Blutspur der GSG 9" nicht hatte schlafen lassen.

Vor allem aber glaubt Groß nicht an die Pause. Er geht nach den Aussagen aller anderen Zeugen von einem "geschlossenen Geschehensablauf" aus, in dem Grams "immer unter Kontrolle" gewesen sei. Und folgert: "Warum will dann niemand gesehen haben, wie das Loch in Grams Kopf kam?" Seine Einschätzung bestätigt die damalige Kioskverkäuferin Johanna Baron: Von ihrem Arbeitsplatz habe sie beobachtet, wie einer der beiden Männer auf den am Boden liegenden Grams geschossen hat. Die einst als unglaubwürdig denunzierte Frau wirkt etwas verunsichert, als sie sich am Freitag zwischen Journalisten und Juristen vom Kiosk zu jener Stelle bewegt, an der Grams gelegen hatte, aber sie bleibt bei ihrer Version. Ihre Aussage könnte tatsächlich helfen, die Geschichtsschreibung über den mörderischen Einsatz von Bad Kleinen zu korrigieren.

Das Urteil der Bonner Zivilkammer, die am 17. September über den Fortgang des Prozesses entscheiden wird, brächte zwar nicht zwingend eine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen die Grenzschützer mit sich, dennoch setzt Anwalt Groß auf die politische Wirkung. "Denken Sie an O.J.Simson." Auch er sei zwar freigesprochen und trotzdem in einem anderen Verfahren zu einer Schadensersatzzahlung verurteilt worden.

Der Jurist hofft jedoch nicht nur auf das Bonner Urteil. Schließlich steht noch eine Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission aus. Im französischen Straßburg soll "die Ermordung von Wolfgang Grams durch GSG 9-Beamte gerügt" werden. In Bad Kleinen geht man indessen schnell wieder zum Alltag über. 15.30 Uhr: Die Kameras werden eingepackt, das Bier von Werner ist getrunken, und auch Herr Dax ist wieder abgereist. "Dat is'n Ding", meint der Mittfünfziger mit Werners Bierdose und hat so seine Zweifel an dem, was die da oben sagen. Im Hintergrund, aber kaum zu überhören, dröhnt wieder die schrille Frauenstimme: "Vorsicht an Bahnsteig vier. Zug aus Lübeck über Grevesmühlen fährt ein."