Der Traum vom Fliegen

Indonesiens Staatschef Habibie, Nachfolger von Ex-Diktator Suharto, hat nach 100 Tagen im Amt Gefallen an der politischen Macht gefunden
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Seit 100 Tagen regiert B.J. Habibie das Inselreich Indonesien. Das Herz des in Deutschland zum Flugzeugbauer ausgebildeten Ingenieurs scheint aber nicht nur für die Politik, sondern auch fürs Fliegen zu schlagen. Habibie gefällt sich darin, seine Amtsführung mit den Aufgaben eines Piloten zu vergleichen.

Zuvor steuerte der im Mai gestürzte Diktator Suharto 32 Jahre lang die "Maschine Indonesien". Und Habibie saß als Kopilot im Cockpit, als der Pilot "ohnmächtig" wurde. Blitzschnell habe er das Kommando übernehmen müssen, aber glücklicherweise sei er als langjähriger Minister, persönlicher Vertrauter und Vizepräsident mit sämtlichen Instrumenten vertraut gewesen, erklärte Habibie in Interviews.

Nun ist Habibie stolz, das Flugzeug im Sturzflug "kurz vor dem Boden" abgefangen zu haben. Und das, nachdem die Passagiere gegen den von "Captain Suharto" eingeschlagenen Kurs protestierten, ein Teil der Besatzung meuterte und die internationalen Flughäfen der Maschine zwar eine Lande-Erlaubnis erteilten, ein Wiederauftanken zum Weiterflug aber ausschlossen.

Viele Beobachter bezeichneten Habibie als Übergangspräsident, kaum jemand traute ihm zu, sich behaupten zu können. Doch der behauptet sich: Erst im Frühjahr nächsten Jahres beabsichtige er, Neuwahlen abzuhalten, hieß es jüngst. Und es besteht kein Zweifel daran, daß Habibie selbst für eine neue Amtsperiode kandidieren will.

Die Kennzeichnung Suhartos als "ohnmächtig" ist kein Ausrutscher. Habibie versucht, alle politischen Entscheidungen in eine Kontinuität zum alten System zu stellen, während gleichzeitig der Anschein eines demokratischen Neuanfangs erweckt werden soll. Allen soll es recht gemacht werden: Dem Ruf nach Reformen, der in den Wochen vor Suhartos Rücktritt laut wurde, wird mit der Beseitigung der schlimmsten Auswüchse der Suharto-Diktatur begegnet. Gleichzeitig hütet sich Habibie, die Privilegien von Bürokratie und Militärs offen in Frage zu stellen. Denn außer der islamischen Intellektuellenvereinigung ICMI hat Habibie über keine Hausmacht.

So sehen viele in Verteidigungsminister und Armee-Chef Wiranto den eigentlich tonangebenden Mann. Oppositionelle argwöhnen, ob nicht hinter den Kulissen noch immer der von der Bildfläche verschwundene Suharto samt seinem Clan die Fäden ziehen. Habibie selbst leugnet dies zwar, bekennt aber offen, Suharto, den er seit 50 Jahren kenne, sei noch immer sein bester Freund.

Korruption, Filz und Vetternwirtschaft waren die Markenzeichen des ökonomischen Systems unter Suharto. Doch in den Jahren des asiatischen Wirtschaftswunders blieb genug vom Kuchen übrig, um auch breiteren Bevölkerungsschichten einen bescheidenen Wohlstand zu ermöglichen. Insbesondere der Mittelstand profitierte. Auch Habibie hatte keinen Grund zu klagen. Er kontrollierte ein halbstaatliches Konsortium aus zehn Industriezweigen, darunter Flugzeugwerke, Werften, Stahlwerke und Munitionsfabriken, die von der Regierung subventioniert wurden. Seine Familie konnte ein Imperium aus knapp 80 Firmen rund um den Timsco-Konzern aufbauen.

Nach seiner Machtübernahme trat Habibie von verschiedenen Direktorenposten - aber nicht von allen - zurück. Auch Verwandte legten Ämter nieder, bei denen die Verquickung wirtschaftlicher und staatlicher Interessen zu offensichtlich war. Einige Privilegien von Suhartos Familie wurden kassiert, und mehrere Angehörige hochrangiger Politiker, darunter auch die Ehefrau von Armeechef Wiranto, mußten ihre Sitze im Oberhaus des Parlaments räumen. Dennoch hat es Habibie schwer, den Ruch der Vetternwirtschaft loszuwerden. Zum Nationalfeiertag am 17. August verteilte er Verdienstorden des Staates. Zu den 38 Preisträgern zählten seine Frau, sein Bruder sowie mehrere Minister, darunter Armeechef Wiranto und Außenminister Ali Alatas.

Doch während sich die Opposition darauf konzentriert, Habibies Kampf gegen die Korruption in Zweifel zu ziehen sowie einen Prozeß gegen Suharto zu fordern, überläßt sie die Tagespolitik dem Präsidenten. Habibies Wirtschaftskurs setzt auf die Erfüllung der IWF-Auflagen, um das versprochene Milliardenhilfspaket nicht zu gefährden. Ursprünglich 43 Milliarden Dollar schwer, wurde es mittlerweile durch das Council of Governments on Indonesia auf rund 49 Milliarden aufgestockt, um Indonesien "für den globalen Wettbewerb fit zu machen".

Dazu gehört die Neuordnung des hochverschuldeten Bankensektors sowie die Schaffung einer unabhängigen Zentralbank mit Bankenaufsicht nach Vorbild der Bundesbank in Frankfurt. Keine Frage, daß die BRD ihre guten Beziehungen zu Habibie nutzte, um an vorderster Stelle beratend tätig zu werden. Anfang Juni fanden unter Federführung der Deutschen in Frankfurt am Main Verhandlungen für ein Umschuldungsabkommen mit Indonesien statt. So versteht es Habibie, international Punkte zu sammeln. Derweil verschärft sich die wirtschaftliche Krise: Die Rupiah befindet sich weiter auf Talfahrt, ein Großteil der Unternehmen ist bankrott, Auslandsinvestitionen lassen auf sich warten. Und die verbliebenen Reichen, die ihr Geld nicht ins Ausland geschafft haben, genießen Sparzinsen von bis zu 65 Prozent.

Eine Eskalation der Krise konnte bislang durch immer neue Finanzspritzen abgewendet werden. Doch langfristig ist das Problem keineswegs bewältigt. Da helfen auch Habibies zynische Vorschläge zum Fasten (zwei Tage pro Woche) nicht. Kaum anders sieht es bei der zugesagten Demokratisierung aus. Einige politische Gefangene wurden zwar freigelassen, nicht jedoch rehabilitiert oder entschädigt. Gefangene, denen das besondere Augenmerk der Militärs gilt, wie Mitglieder der Kommunistischen Partei PKI, Funktionäre der neulinken Partei PRD sowie der ost-timoresische Widerstandsführer Xanana Gusmao sind weiterhin in Haft.

Im Hinblick auf Ost-Timor, das 1976 von Indonesien annektiert wurde, ließ sich die Regierung in Verhandlungen erstmals auf eine Autonomie-Regelung ein und kündigte einen Teilabzug der Truppen an. Die wesentlichen Forderungen der Ost-Timoresen - Beteiligung am Verhandlungsprozeß, Abhaltung eines Referendums und die Freilassung Xanana Gusmaos - sind jedoch weiterhin tabu. Ende Juni eröffnete das Militär das Feuer auf demonstrierende Ost-Timoresen, zwei Menschen wurden getötet. Einwohnern der Provinz Irian Jaya (West Papua), die für die Unabhängigkeit ihrer Inselhälfte demonstrierten, erging es ebenso. Auch hier eröffneten die Militärs das Feuer, ein Demonstrant erlag seinen Verletzungen.

Eine Diskussion über Unabhängigkeit komme nicht in Frage, hieß es von offizieller Seite. Allerdings sollen bewaffnete Truppen schrittweise durch "Soldaten mit Spaten" ersetzt werden, die zur Entwicklung der Region beitragen sollen. Die Bevölkerung Osttimors weiß, was von solchen "Aufbauhilfen" zu halten ist: In den Anfangsjahren der Besetzung wurden rund 200 000 Menschen Opfer von Militäreinsätzen und Kriegsfolgen.

Aber nicht nur deswegen gerät das Militär zunehmend unter Druck. Offensichtlich organisierte Massenvergewaltigungen an Frauen der chinesischen Minderheit in den Tagen vor Suhartos Sturz und die Entführung und Folterung mehrerer Dutzend Oppositioneller haben zudem dem Image geschadet. Von 14 Entführten fehlt jede Spur. Überlebende geben an, daß dem ehemaligen Kommandeur der Elitetruppen Kopassus und Schwiegersohn Suhartos, General Prabowo, ein Großteil der Verantwortung für diese Vergehen zufällt.

In Aceh, im Norden Sumatras, wurden jüngst Massengräber aus den Jahren 1989 bis 1992 entdeckt, als das Militär gegen eine separatistische Untergrundbewegung vorging. Wiranto sah sich mittlerweile gezwungen, sich bei den Bewohnern Acehs für die Massaker zu entschuldigen. Er hob den Ausnahmezustand über die Provinz auf. Zudem wurde Prabowo letzte Woche "ehrenhaft" vom Militärdienst suspendiert - er gilt als interner Widersacher Wirantos (Jungle World, Nr. 34/98).

Zunehmend wird aber deutlich, daß Prabowo nicht allein für alle Verbrechen des Militärs verantwortlich gewesen sein kann. Lautstark wird seine Anklage gefordert. Man hofft, daß dabei herauskommt, wessen Befehle ausgeführt wurden. In der Logik der Militärhierarchie kommen nur wenige in Frage - Suharto, Wirantos Vorgänger Feisal Tanjung, der heute als Minister in Habibies Kabinett fungiert, und Wiranto selbst. Ob es so aber zu der Beschränkung der politischen Bedeutung des Militärs kommen wird, ist unklar. Seit Habibie die Zulassung von Parteien verkündete, ist die parlamentarische Opposition mit sich selbst beschäftigt. Etwa 70 neue Parteien suchen nun, sich Statuten und Programme zu geben.

Somit ist der Ruf nach umfassenden Reformen leiser geworden. "Reform" ist ohnehin zur Sprachhülse verkommen: Habibie gab seinem Kabinett den Namen "Reformkabinett". Und von den Werbeplakaten in den Städten grüßen inwischen Slogans wie "Salam Reformasi - kauft Waschmittel XY!"