53. Wälsungenblut

Fortgesetzte Erzälungen

Es ging schon auf Abend. Ein kalter Hühnermist strich böse über den Teich von Lamerden, aber Stroessel angelte unverdrossen. Er hatte die Abdeckerei ertragen, die man vor ein paar Jahren abgerissen hatte, er würde auch das Hühner-KZ überleben, in dem Adam Wurz an die 30 000 Legehennen züchtete.

Sprachen wir schon über Stroessel? Idas Onkel, Annas Bruder, Jeremias Stroessel? Lehrer am Abendgymnasium Kassel, der Modder geraten hatte, Deutschlehrer zu werden, Bibliothekar, Lokalredakteur, Schriftsteller oder irgend so was?

Also gut. Stroessel beschwerte die Angel mit einem Felsbrocken und rieb die Hände über dem knisternden Feuerchen. Auf einem heißen Stein stand eine Dose mit eingelegten Pflaumen und auf einem alten Ofenblech brutzelten dünne Scheiben Speck. Wenn man Mitte fuffzig ist, braucht man was zum Aufwärmen.

Ein Stenz kam die Holländische Straße runter und stieg ab. Ein leptosomer Typ in einem eleganten Glencheck mit Bauchansatz. Hageres bleiches Gesicht, krumme Nase, aufgeworfene Lippen und dunkles, gekräuseltes Haar. Große Hornbrille mit dicken Gläsern. Jetzt kannte Stroessel ihn endlich.

"Na, Modjewski, wie geht's?"

Stroessel wickelte heißen Speck um eine warme Pflaume und goß Schnaps drüber. Modder lehnte das Rad gegen den Baum, rutschte den Hang runter, nahm das Glas, zerkaute die Speckpflaume und spülte sie mit dem Klaren runter. Er schüttelte sich. Stroessel mitfühlend: "Das tut gut, hab' ich recht?"

Später saßen sie auf buckligen Steinen, genossen die letzten Sonnenstrahlen im Nacken, rauchten Player's Navy-Cut, lobten den Schnaps, die Fische, den Sonnenuntergang, den Rücktritt Adenauers, den Besuch Kennedys, die Berliner Mauer etc. Ein paar Elstern fielen zeckernd übereinander her und verteilten sich auf Bäumen, wo sie mit langen Schwänzen wippten.

Als alles durchgehechelt war, alles Private, auch Westberlin, wo Modder jetzt lebte, weil es so schön gemütlich war, wie er sagte, fast nicht von dieser Welt, kein Wirtschaftswunder, kein Bauboom, keine Bundeswehr, nicht so hektisch wie bei uns im Westen, wie Stroessel sagte, ja gemütlicher halt, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, ging Stroessel ans Eingemachte, so daß sich folgender Dialog ergab.

Stroessel: "Fährst du immer noch zweispännig?"

Modder: "Von der Literatur allein kann man nicht leben."

"Du mußt lesen, Junge, lesen. Wer schreiben will, muß lesen. Was liest'n da? Darf ich mal sehn?"

Er deutete auf das schmale Bändchen, das aus Modders Sakkotasche blickte und hielt es schon in der Hand.

"Aha! Das Wälsungenblut! Nix Dolles, aber 'ne hübsche Geschichte. Den Anfang kann ich fast auswendig: Die veilchenfarbenen Kniehosen, den altersblassen Gebetsteppich, den erzenen Lärm, der wild, kannibalisch und übertrieben für seinen Zweck überall hindringt, Herr Arnold, der mit kurzen Schritten aus der Bibliothek kommt, wo er sich mit seinen alten Drucken beschäftigt hat, die protzigen Interieurs."

"Ja", sagte Modder blasiert, "es ist ein glänzendes Porträt einer reichen Bürgersfamilie am Fin de siècle. Dieser Luxus, diese bis zum Exzeß verfeinerte Lebensart einer sozialen Elite. Unglaublich, daß uns nicht mal ein Menschenalter trennt von dieser Dekadenz."

"Ist das alles?", sagte Stroessel streng.

"Entscheidend ist natürlich der Inzest, das Liebesverhältnis der Zwillinge Siegmund und Sieglinde."

"Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?"

"Nun ja", sagte Modder und trompetete das Leitmotiv Wer meines Speeres Spitze fürchtet durchschreite das Feuer nie.

"Ganz recht", sagte Stroessel. "Die Parallele zu Richard Wagners Walküre natürlich. Mit einem feinen Unterschied. Wagners Inzest erfolgt im göttlichen Auftrag in einer germanischen Häuptlingshütte und dient der Rettung der Welt. Manns Ort ist ein überladener spätbürgerlicher Salon und man langweilt sich.

Bei Wagner betrügt Sieglinde ihren Mann, einen dieser fellbehangenen Waldschrate, dick, dumm, doof und brutal, von denen es in der deutschnationalen Ideologie vor hundert Jahren nur so wimmelt, mit ihrem wieder aufgetauchten Bruder Siegmund und zeugt mit ihm Siegfried. Was aber macht Thomas Mann aus dieser ungewaschenen Hüttengeschichte?"

"Ich denke", sagte Modder.

"Sie denken gar nichts. Sie übersehen, wer die beiden sind. Sieglinde und Siegmund sind Juden! Der einzige Arier in der ganzen Geschichte ist der spießige, opportunistische, karrieregeile Verlobte, ein preußischer Ministerialbeamter, der nicht merkt, daß Sieglinde ihn mit ihrem Bruder betrügt. Zum Schießen, nicht?"

"Jetzt übertreiben Sie aber, Herr Studienrat."

"Ich übertreibe, Modjewski? Thomas Manns Wälsungenblut ist eine antisemitische Schmähschrift reinsten Wassers! Die literarische Adaption der Weisen von Zion quasi."

Er blätterte das Buch auf und rezitierte:

"Hören Sie nicht den jiddischen Tonfall? 'Nun, er wird kommen. Wie wird er nicht kommen?' Und dann erst die Beschreibung der Millionärsgattin, die das sagt: Klein, häßlich und früh gealtert, sagt Thomas Mann, und 'wie unter einer fremden heißen Sonne verdorrt. Eine Kette von Brillanten lag auf ihrer eingefallenen Brust.'"

"Meinen Sie wirklich?"

"Ich weiß es! Die Erzählung strotzt vor Klischees aus der Mottenkiste der Antisemiten. Die gleichmäßig erwärmte Atmosphäre der Arnoldschen Villa ist durchaus mit einem süßen, exotischen Parfüm geschwängert, Sieglindes Bruder Kunz ist ein schöner, brauner Mensch mit aufgeworfenen Lippen, ich bitte Sie: aufgeworfene Lippen!

Ihre Schwester Märit hat eine Hakennase, graue Raubvogelaugen und einen bitteren Mund, und Siegmund, ihr Geliebter, ist beileibe kein Heldenerzeuger. Er ist, ich zitiere: Ein Ephebe mit magerem, fahlem Gesicht, schwarzem, gekräuseltem Haar und Schläfenlöckchen! Ich sage nur: Schläfenlöckchen!"

Er schwieg und tat erschöpft. "Sind Sie sicher?" frug Modder spöttisch, vielleicht nur aus eingeborener Abwehr. "Sicher?" stieß Stroessel hervor. "Lesen Sie selbst!" Sein dicker Zeigefinger suchte bebend die Zeile. "'Herr Arnold war im Osten an entlegener Stätte geboren. Er war ein Wurm gewesen, eine Laus.' Oder seine Kinder: 'Sie verachteten ihn für seine Herkunft, für das Blut, das in ihm floß, für die Art, wie er seinen Reichtum erworben hatte.'

Der Kohlenbaron Arnold, Modjewski, ist der Prototyp des durch Spekulation und Korruption zu Reichtum und Ansehen gekommenen Ostjuden, der Parvenü par excellence, der Parasit, der am arischen Volkskörper schmarotzt.

Und diese halbseidene, eingebildete Mischpoche schlüpft in Thomas Manns Geschichte in das Göttergeschlecht der Wälsungen, der Germanen schlechthin. Sagen Sie selbst: Ist das nicht perfide?"

"Ja, aber", sagte Modder besorgt. "Warum hätte er das tun sollen, der große Mann?"

Stroessel hob die Hände und blickte zum Himmel. "Wer will das wissen? Vielleicht wollte er nur das Klischee vom jüdischen Schmarotzer ironisch beleuchten, in dem er Wagners inzestuöse Germanen auf eine Stufe hob mit den Arnoldschen Kindern.

Oder wollte er vielleicht der Familie seiner Verlobten eins auswischen durch die Karikatur einer zutiefst assimilierten jüdischen Familie im Reich Wilhelms II. zu Beginn des Jahrhundert? Erschien ihm vielleicht der Spekulant und Emporkömmling seinem Wesen nach jüdisch?"

Auch Modder erhob sich. Er straffte sich, legte die Hand an die Krempe und schnarrte: "Mit euch, Herr Doktor, zu parlieren. Es war mir ein Vergnügen." Stroessel winkte freundlich ab. "Grüßen Sie mir Ihre Ahnen, Modjewski. Und nicht vergessen: Lesen Sie, lesen Sie!"

Er sah ihm nach, wie er sein Rad nach Hofacker hinaufschob. "Dieser Fatzke", dachte er, "will nun Schriftsteller werden. Er kann nicht mal lesen. Nun ja, vielleicht braucht man eine Portion Dummheit zum Schreiben. Und Chuzpe auf jeden Fall."

Ein Barsch hob das Maul aus dem Wasser und schaute ihn vorwurfsvoll an. Stroessel nahm ein Stück Speck und warf es ihm in den Rachen. Der Fisch bedankte sich artig und verschwand.

Nächste Woche: "Beim Doktor"