Auf dem Weg in die abtreibungsfreie Zone

Das Verfassungsgericht muß entscheiden, ob bayerisches Sonderrecht Schwangerschaftsabbrüche zusätzlich erschweren darf

Auf den ersten Blick liest sich Paragraph 5 des 1993 in Kraft getretenen Schwangerschaftskonfliktgesetzes vielversprechend: Die Schwangerenberatung "geht von der Verantwortung der Frau aus". Sollen demnach Frauen frei über ihren eigenen Bauch entscheiden dürfen, weil das Gesetz annimmt, daß sie verantwortungsvoll handeln werden?

Es bleibt beim Ansatz, denn schon wenige Zeilen weiter unten werden die Prioritäten anders gesetzt: "Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens." Das Gesetz hält einen Widerspruch fest, steht aber immerhin unter dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit der Frau im Umgang mit dem Konflikt und fordert, daß die Beratung ergebnisoffen geführt wird.

In Bayern ist man da eher "grad heraus": Hier ist im Schwangerenberatungs- und Schwangerenhilfeergänzungsgesetz von einer Verantwortung der Frau überhaupt keine Rede. Ende Juni verhandelte das Bundesverfassungsgericht Beschwerden von fünf bayerischen Ärzten gegen das vor zwei Jahren im Freistaat beschlossene Schwangerenhilfeergänzungsgesetz. Im letzten Jahr hatten die fünf Ärzte eine einstweilige Verfügung erwirkt und die bayerischen Regelungen damit vorerst außer Kraft gesetzt.

Die Beschwerdeführer Andreas Freudemann aus Nürnberg und Friedrich Stapf aus München betreiben die einzigen beiden reinen Abtreibungspraxen in Bayern. "Mit einem Urteil ist voraussichtlich weder vor der Landtagswahl am 13. September noch vor der Bundestagswahl zu rechnen", meint Stapf. "Erst dann wird das Bundesverfassungsgericht verkünden, ob Bayern Sonderbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch erlassen kann, obwohl es dazu bereits ein Gesetz des Bundes gibt." Geprüft wird, ob Bayern beim Schwangerschaftsabbruch eigene Gesetzgebungskompetenz besitzt: Darf ein Bundesland Gesetze erlassen, obwohl der Bund das Thema bereits durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt hat? Darf das Landesgesetz in die Berufsfreiheit von ÄrztInnen eingreifen?

Bereits 1996 hatte die bayerische Staatsregierung die abweichenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch erlassen: das Bayerische Schwangerenberatungs- und das Schwangerenhilfeergänzungsgesetz. Verglichen mit dem Bundesgesetz bedeuteten beide eine erhebliche Verschärfung. "Die Beratungsbescheinigung, ohne die ein Abbruch nicht erlaubt ist, wird in Bayern nur ausgestellt, wenn die betroffene Frau ihre Gründe darlegt", erläutert Eleonore Stern von den Feministischen Juristinnen Passau. "Aber auch dann ist die Beratung erst abgeschlossen, wenn die beratende Person sie als beendet ansieht. Die Schwangere kann so mehrmals zur Beratung zitiert und zusätzlich unter Druck gesetzt werden." Man müsse das Gesetz nur "vernünftig lesen", wiegelt dagegen Bayerns Prozeßbevollmächtigter Prof. Peter Lerche ab, dann folge daraus kein Zwang für die Frauen.

Aber nicht nur den ungewollt Schwangeren legt die bayerische Staatsregierung zusätzliche Steine in den Weg. Auch ÄrztInnen, die sich bereiterklären, Abbrüche vorzunehmen, müssen hohe Auflagen erfüllen: Nur diejenigen, die auf Antrag eine entsprechende Erlaubnis erhalten haben, dürfen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Bei der mündlichen Verhandlung im Juni haben einzelne VerfassungsrichterInnen durch hartnäckiges Nachfragen durchblicken lassen, daß sie den bayerischen Sonderweg gerade in diesem Punkt für wenig sinnvoll halten.

Zu den Voraussetzungen für die Erlaubnis, in Bayern Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, zählt eine Ausbildung als Fachärztin oder Facharzt für Gynäkologie. Allgemeinarzt Friedrich Stapf, der seit Anfang der achtziger Jahre Abbrüche vornimmt, hat aber lediglich zu Beginn seiner Tätigkeit zwei Jahre Erfahrung in einer gynäkologischen Abteilung gesammelt. "Gynäkologen", so Stapf, "sind zwar etwas besser qualifiziert, da sie ähnliche Operationen durchführen müssen. Die Durchführung von Abtreibungen gehört jedoch ausdrücklich nicht zum Ausbildungsprogramm."

Lediglich ein Viertel ihrer Gesamteinnahmen dürfen bayerische ÄrztInnen aus Abbrüchen erzielen. Damit wollen die InitiatorInnen des Gesetzes die Existenz von spezialisierten Praxen, wie Stapf und Freudemann sie betreiben, verhindern. "Gerade diese tragen jedoch mit der entsprechenden Ausstattung und erfahrenem Personal dazu bei, das Gesundheitsrisiko für die Frau zu vermindern", betont Stapf. "Nach dem Abbruch sollte zum Beispiel unbedingt die Gebärmutter mit Ultraschall kontrolliert werden. So ein Gerät ist jedoch teuer, und häufig muß die Frau deshalb erst in eine andere Praxis geschickt werden."

Die Beschränkung der Einnahmen durch Schwangerschaftsabbrüche stieß auch beim Bundesverfassungsgericht auf Skepsis. Die RichterInnen äußerten Zweifel an der Eignung dieses Mittels zur "Vermeidung wirtschaftlicher Abhängigkeit von Abtreibungen". Die senatsinterne Berichterstatterin Renate Jaeger wies außerdem darauf hin, daß gut verdienende FrauenärztInnen nach dieser Logik mehr Schwangerschaftsabbrüche vornehmen dürften als andere.

Doch nicht nur über die Anzahl der jährlich vorgenommenen Abbrüche sowie Art und Höhe ihrer Einnahmen sollen Bayerns ÄrztInnen den Behörden Bericht erstatten. Nach den bayerischen Sondergesetzen sollen sie zusätzlich Aufzeichnungen etwa darüber liefern, daß sie die Frau über "den von der Verfassung gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens" beraten haben und diese ihre Beweggründe dargelegt hat. Die dahinterstehenden Druckmittel sind massiv: Bei falschen oder fehlenden Angaben wird mit Hausdurchsuchungen und Geldstrafen bis zu 20 000 Mark gedroht.

"Aufgrund der hohen Hürden für die Zulassung, der zusätzlichen Pflichten, die den ÄrztInnen aufgebürdet werden und der gleichzeitigen Gefahr laufender Kontrollen durch Regierung, Gesundheitsamt und Staatsanwaltschaft ist fraglich, wieviele ÄrztInnen überhaupt noch bereit sein werden, eine Erlaubnis für Schwangerschaftsabbrüche zu beantragen", sagt Eleonore Stern. "Dadurch ist absehbar, daß eine flächendeckende Versorgung mit entsprechenden Einrichtungen nicht mehr gewährleistet sein wird, obwohl diese durch das Bundesverfassungsgericht und die Bundesgesetzgebung vorgeschrieben ist."

Dem widerspricht Bayerns Sozialministerin Barbara Stamm (CSU). 111 Genehmigungen seien bislang erteilt worden, die flächendeckende Versorgung damit gewährleistet. Doch 60 der antragstellenden ÄrztInnen haben keinerlei Angaben über Kapazitäten gemacht. Vom Sozialministerium werden diese daher einfach geschätzt. "Nicht einmal die Hälfte dieser Ärzte hat sich bereit erklärt, sich von Beratungsstellen empfehlen zu lassen", schränkt Friedrich Stapf die positiven Prognosen des Ministeriums ein. "Das bedeutet, daß sie lediglich bereit sind, Abbrüche bei ihren eigenen Patientinnen vorzunehmen. Von ausreichenden Kapazitäten kann daher keine Rede sein."

Besonders Ostbayern ist stark unterversorgt. Im Regierungsbezirk Niederbayern beispielsweise, der viermal so groß ist wie das Saarland und knapp eine Million Einwohner hat, gibt es bislang nur einen einzigen Arzt mit entsprechender Genehmigung, so daß Frauen dort noch immer große Strecken zurücklegen müssen, um eine Schwangerschaft abbrechen zu lassen.

Erst im Juni letzten Jahres haben rund 200 Frauen mit einer Demonstration in Passau gegen die "abtreibungsfreie Zone" auf ihre Situation aufmerksam gemacht und erneut die völlige Abschaffung des Paragraphen 218 gefordert. Einer der wenigen Appelle ohne faule Kompromisse. Ein unter anderem von FDP, Grünen und Gewerkschaften getragenes Volksbegehren fordert dagegen lediglich "gleiches Recht auch für Bayerns Frauen". Deren Selbstbestimmung bliebe auch dabei eingeschränkt.