Historischer Kompromiß am Abgrund

Rußland hat einen neuen Ministerpräsidenten: den Technokraten Jewgenij Primakow

"Es ist ein schleichender Putsch", sagte Viktor Tschernomyrdin Mitte vergangener Woche. Zuvor war er zum zweiten Mal als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten in der Duma, dem von Nationalisten und sogenannten Kommunisten dominierten Unterhaus des russischen Parlaments, durchgefallen.

Ein neuer Stern am russischen Himmel der potentiellen Ministerpräsidenten war aufgetaucht: Jewgenij Primakow. Daß er, Tschernomyrdin, als Wunschkandidat von Präsident Boris Jelzin von den Abgeordneten abgelehnt wurde, sei Teil einer kommunistischen Verschwörung, um Jelzin zum Rücktritt zu zwingen und selbst die Macht zu ergreifen.

Dazu kam es nicht. Am Freitag bestätigte die Duma mit überwältigender Mehrheit Primakow als neuen Premier. Nur der rechtsextreme "Liberaldemokrat" Wladimir Schirinowski denunzierte Primakow als "amerikanische Marionette".

Das geht ein wenig an der Realität vorbei. Primakow gilt als Technokrat mit viel außenpolitischer und wenig wirtschaftspolitischer Kompetenz, der schon den verschiedensten Herren diente: Orientexperte des Kreml in den siebziger Jahren, Vertrauter Gorbatschows in den Achtzigern, ab Anfang der Neunziger fünf Jahre lang Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SVP, einem KGB-Sprößling, 1996 Außenminister.

Primakow ist ein typischer Kompromißkandidat zwischen der Duma, Jelzins Kreisen und den verschiedenen Clans, die in der russischen Politik ein Wörtchen mitzureden haben. Hätte die Duma ein drittes Mal einen von Jelzin vorgeschlagenen Präsidentschaftskandidaten abgelehnt, wäre Jelzin gemäß der Verfassung gezwungen gewesen, die Duma aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.

Kaum war Primakow als neuer Premier bestätigt, kündigte er in der Duma ein kunterbuntes Programm an, das alle möglichen Interessen zu befriedigen versprach: Fortsetzung der Reformen für die westlichen Investoren und Regierungen, mehr staatliche Kontrolle für die sogenannten Kommunisten, die größere Einbeziehung der Regionen in die Politik für die mächtigen Regionalfürsten und den Einsatz des Finanzsystems zur Stärkung der Industrie für das russische Kapital. Wie er das alles gleichzeitig bewerkstelligen will, sagte er nicht.

Dafür erklärte er in einer Adresse an die Duma, Präsident Jelzin habe Viktor Geraschtschenko als Chef der Zentralbank nominiert. Zudem werde sein erster Vize-Ministerpräsident mit Zuständigkeitsbereich Wirtschaft KP-Mitglied Juri Masljukow sein. Beide Ernennungen hatten die Rückendeckung von KP-Chef Gennadij Sjuganow. Der KP-Einfluß schlägt sich nun direkt in der Regierungspolitik nieder, und es ist eine Art "historischer Kompromiß" zwischen Jelzins Kreisen und der KP, der da inmitten des russischen Desasters zustandegekommen ist.

Geraschtschenko hatte den Posten als Chef der Zentralbank von 1992 bis 1994 schon einmal inne - in der Zeit der Hyperinflation. Damals hatte er die Praxis der Regierung beaufsichtigt, massenhaft Papiergeld zu drucken und auszuschütten. Nach dem "Schwarzen Dienstag" im Oktober 1994, dem Tag, an dem der Rubel kollabiert und gegenüber dem Dollar um fast 30 Prozent gefallen war, wurde er gefeuert.

Nun sagte Geraschtschenko vor dem Haushaltsausschuß der Duma, die Regierung werde zu "einer kontrollierbaren Emission von Banknoten" greifen müssen. Das kommt der KP-Forderung entgegen, die Notenpresse anzuwerfen, um die immensen Rückstände an Lohn, Rente und Sold zu begleichen. Aber ein solcher Schritt bringt die Gefahr mit sich, die ohnehin wachsende Inflation noch anzuheizen.

KP-Mitglied Jurij Masljukow, der für Primakow die Wirtschaftspolitik koordinieren soll, ist im militärisch-industriellen Komplex (MIK) der ehemaligen SU groß geworden. In diesem war die technologische Entwicklung konzentriert, und für den MIK ist Masljukow nun wieder zuständig. Zudem war er letzter Chef der kolossalen sowjetischen Planungsbehörde Gosplan. Möglicherweise wird er versuchen, durch staatliche Hilfen und Kredite die russische Ökonomie zu stabilisieren.

Aber noch ist unklar, welche wirtschaftspolitischen Pläne Primakow verfolgen wird. Die Ernennung von Masljukow und Geraschtschenko könnte auch Ausfluß einer Taktik sein, die Kommunisten in eine Regierung einzubinden, die zu einem unpopulären, die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung vorantreibenden Kurs gezwungen ist.

Primakow und seine Mannen sind mit einer komplexen Krisensituation konfrontiert. Das russische Bankensystem taumelt am Abgrund, die Währung kriselt vor sich hin, die Wirtschaft ist am Boden. In einigen Regionen haben Panikkäufe von Lebensmitteln zu ersten Engpässen geführt.

Zwar hat Primakow am Wochenende verkündet, eine Bankrotterklärung des russischen Staates sei ausgeschlossen. Aber mit der Abwertung des Rubel am 17. August hat die russische Regierung ihre kurzfristigen Staatspapiere, die sogenannten GKOs, eingefroren und damit die Rückzahlungt dieser Inlandsschulden gestoppt. Zugleich wurde ein dreimonatiges Moratorium für die Rückzahlung der Auslandsschulden russischer Handelsbanken erklärt. Regierung und Zentralbank versprachen aber, der russische Staat werde weiter seine Auslandsschulden bedienen.

Das Vertrauen in diese Aussage ist allerdings gering. Das US-Brokerhaus Brunswick Warburg hat kürzlich Rußlands Schulden beziffert: Im kommenden Jahr werden danach Zahlungen in Höhe von mehr als 17 Milliarden Dollar fällig, sieben Milliarden davon an den Internationalen Währungsfonds, rund fünf Milliarden in Eurobonds und ebensoviel an andere Kreditgeber. Und weitere Kredite für Rußland sind nicht in Sicht.

Beispielhaft für die westlichen Regierungschefs agiert derzeit Bundeskanzler Helmut Kohl. Nach der Ernennung Primakows sagte Kohl, er vertraue weiterhin auf den "Reformwillen" von Boris Jelzin. Finanzhilfen gebe es nicht, aber er könne die Hilfe deutscher Wirtschafts- und Finanzexperten anbieten. Ob die so sehr gefragt sind, ist unklar: Es waren die guten Ratschläge der West-Experten, die das russische Desaster wesentlich mitverursacht haben.