Nach allen Seiten offen

Die Fête de l'Humanité zieht immer noch Hunderttausende an - vom Minister bis zum Sans-papiers

An ihren Füßen sollt ihr sie erkennen. Die Aktivisten der französischen Kommunistischen Partei (PCF, Parti communiste fran ç ais) waren an diesem Wochenende leicht zu identifizieren - an dem Schlamm, der an ihren Schuhen und Hosen haftete. Denn bei strömendem Regen verwandelt sich der riesige Landschaftspark der Pariser Trabantenstadt La Courneuve, in dem seit Jahrzehnten alljährlich das Pressefest der PCF-Tageszeitung L'Humanité stattfindet, in einen Sumpf, in dem die Besucher, regelmäßig einige Hunderttausend, mehr als knöcheltief im Schlamm waten. Die Eingeweihten reisen daher gleich in Gummistiefeln an.

Wer vom Pariser Norden aus mit dem Vorstadtzug nach La Courneuve hineinfährt, kommt kurz vor dem Halt durch die Hochhaussiedlung La Cité des Cosmonautes. Die Kosmonautensiedlung wurde in den frühen sechziger Jahren, nach den damaligen sowjetischen Erfolgen beim bemannten Weltraumflug, von der "roten" Rathausmehrheit auf ihren heutigen Namen getauft - für die pro-sowjetische KP ein Sinnbild des durch den "real existierenden Sozialismus" verkörperten Fortschritts der Menschheit.

Die Zeiten haben sich geändert. Die Pariser Trabantenstädte sind nicht mehr von den rauchenden Schloten der fordistischen Industrien geprägt, sondern - nach deren zunehmendem Niedergang - von anhaltender Massenarbeitslosigkeit, die Hoffnungen auf eine lichte Arbeiterzukunft haben sich getrübt. Doch noch immer regiert die französische KP die Rathäuser dieser Vorstädte - fast - unangefochten, auch wenn in den letzten Jahre eine gefährliche Alternative zu ihr herangewachsen ist: Die zweiten Wahlgänge, die Stichwahlen zwischen den bestplazierten Kandidaten, finden hier fast ausnahmslos zwischen dem PCF und dem neofaschistischen Front National statt. Doch stellen die Parteikommunisten hier - im Departement Seine-Saint-Denis - noch immer die erste politische Kraft dar.

Die Fte de l'Humanité bildet landesweit das alljährliche Großereignis für "den" KP-Aktivisten. Anfang der neunziger Jahre - die französische KP steckte wegen des plötzlichen Ausbleibens der sowjetischen (auch finanziellen) Unterstützung in arger Geldnot - wurde in der Parteispitze vorübergehend erwogen, das jährliche Fest, das häufig Defizite bringt, einzustellen. Doch das Argument setzte sich durch, daß die Partei damit endgültig die Fähigkeit verliere, ihre "Truppen" - das sind derzeit offiziell 270 000 Mitglieder, nachdem vor zehn Jahren deren Zahl mit (wahrscheinlich stark übertriebenen) 600 000 angegeben wurde - zu mobilisieren, gäbe es den Identifikationsfaktor Fte de l'Huma nicht mehr. Tatsächlich strahlt das Ereignis eine eigene Faszination aus: Rund 500 000 Besucher drängen sich hier jährlich in der grünen Parkoase inmitten der enormen Plattenbauten und Hochhaussilos von La Courneuve.

Der Besucherzulauf für die Fte de l'Huma scheint erstaunlich, wenn man weiß, daß das Blatt gegenwärtig nur noch eine Auflage von knapp 60 000 hat. In den achtziger Jahren noch waren die Verkaufszahlen deutlich höher, da die KP-Mitglieder damals quasi gezwungen waren, mit weiterer Mitgliedschaft auch das Abonnement des Parteiorgans zu erneuern. Die wenigsten dieser offiziellen Abonnenten dürften L'Huma damals auch wirklich gelesen und ernstgenommenn haben, auch die Mehrzahl der Parteimitglieder zog es vor, sich aus der bürgerlichen Presse zu informieren. Denn das offizielle Organ war kaum lesbar und bot schwer verdaulichen Propaganda- und Verlautbarungsstil.

Heute fällt es L'Humanité schwer, Abstand von diesem Image zu gewinnen, auch wenn die Zeitung in den letzten ein, zwei Jahren tatsächlich relativ offen und interessant geworden ist. Regelmäßig werden kontroverse Debatten initiiert und abgedruckt, während früher an allen gesellschaftlichen Ereignissen einzig und allein der Standpunkt des PCF interessierte.

Die Wandlung von L'Humanité spiegelt die der Partei wider. Seitdem diese sich 1994 offiziell von ihrem realsozialistischen Gesellschaftsmodell verabschiedet hat, bemühte sie sich um eine demonstrative Öffnung in die Gesellschaft hinein. Einerseits hat sie eine Art Zivilgesellschaftsdiskurs angenommen, der es ihr erlaubt, auf alle möglichen gesellschaftlichen Initiativen und Bewegungen zuzugehen - regelmäßig mit der Versicherung, die Partei verstehe sich als Sprachrohr der von ihnen formulierten Ideen und Wünsche und nicht mehr als Machtinstrument oder gar Verfechter eines fertig vorgedachten "Modells". Der Impuls zur Veränderung der Gesellschaft kann demnach nur aus der Gesellschaft selbst, nicht von der Partei, kommen.

So sind auf der diesjährigen Fete beispielsweise auch die für ihr Bleiberecht in Frankreich kämpfenden Sans-papiers ("Illegale" Immigranten) und ihre Unterstützer erwünscht. Noch in den achtziger Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Damals sprach sich die KP im Namen der "Interessen der französischen Arbeiterklasse", wie eine Staatspartei im Wartestand, für die Schließung der Grenzen aus.

Andererseits aber bedeutet "Öffnung" eben auch die Beteiligung des PCF an der - ihrerseits pluralen - Linkskoalition, die mit dem Sozialisten Lionel Jospin das Land regiert. Sie ist damit auch den Anpassungszwängen einer Regierungspartei - an die "ökonomischen Notwendigkeiten", an die internationalen "Partner" - unterworfen. Einen Widerspruch will der offizielle PCF-Diskurs darin nicht erkennen. Der definiert dieses Strecken nach zwei Seiten als einen geradlinigen Prozeß: Die Partei sei dazu da, die Impulse aus der Gesellschaft heraus aufzunehmen und in die Regierung hinein forzusetzen.

Angesichts der mehr oder minder deutlich von den "objektiven Zwängen" des neoliberalen Kapitalismus geprägten Politik der Jospin-Regierung nahm die KP während der letzten Monate Stellung, indem sie unablässig wiederholte, es müsse "eine Beschleunigung der Reformen" geben, es müsse "schneller vorangehen". Was beinhaltet, daß die Richtung grundsätzlich die richtige ist. Jüngst machte man Robert Hue in der KP-Spitze vorsichtig darauf aufmerksam, daß dieser Slogan ja auch so ausgelegt werden könne, daß das Privatisierungsprogramm beschleunigt werden müsse. Nun hat er - zuerst in einem Gespräch mit der Regenbogenzeitschrift Vendredi, Samedi, Dimanche - angekündigt, er "werde ab diesem Herbst radikaler" auftreten. Seitdem ist häufiger die Rede von "Strukturreformen".

Vor einem Jahr war Hue in La Courneuve vom Publikum ausgebuht worden, als er versucht hatte, einen Teil der damals anlaufenden Privatisierungen durch die Jospin-Regierung zu rechtfertigen. Dieses Jahr läßt sich der Parteisekretär von der Pariser KP-Senatorin Nicole Borvo - die innerparteilich zu den Hue-Anhängern gezählt wird - vertreten, die den Schwerpunkt ihrer Rede auf das notwendige "schnellere Tempo der Reformen" legt.

In den ersten Reihen vor der großen Bühne hat sich eine Hundertschaft von Aktivisten der neostalinistischen innerparteilichen Oppositionsgruppe "Coordination Communiste" aufgebaut, bewaffnet mit roten Flaggen, die das traditionelle Hammer-und-Sichel-Emblem ziert. Die Protestierer entrollen ein großes Transparent mit der Aufschrift "Für die nationale Souveränität und gegen Europa - Abschaffung des Maastricht-Vertrages!" und tragen in Sprechchören die Anti-Maastricht-Forderung sowie den Slogan "Nein zu den Privatisierungen" vor.

Am Vortag war der sozialliberale Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn auf der Fte de l'Huma ausgebuht worden, der an einem Informationsstand seines Ministeriums die Kommunisten "über den Euro informieren" wollte - auch das ein Novum in La Courneuve.

Die anhaltende Krise des weltweiten Kapitalismus und insbesondere die Erschütterungen in Rußland, wohin die Augen der Partei so lange Zeit gerichtet waren, hat unterdessen einem traditionell anmutenden Diskurs neuen Auftrieb gegeben. So bemerkte Jean-Claude Gayssot, Transportminister der Regierung Jospin, in der Vorwoche gegenüber der Presse, die russische Krise beweise anschaulich, daß der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte sei. Um sofort hinzufügen: "Es braucht private Unternehmen, aber es braucht auch Möglichkeiten sozialer und demokratischer Regulierung." Womit er im Prinzip eine rein sozialdemokratische Politikdefinition wiedergegeben hat.

Auf der Fte de l'Huma tritt Gayssot, der als einer der loyalsten Minister Jospins gilt und die Teilprivatisierung von Air France geleitet hat, in blauem Arbeitsanzug auf die Bühne. Bei der französischen KP ist tatsächlich Vielfalt angesagt, Rollenvielfalt.