Konsens gegen die Hamas

Nach dem Tod von zwei Hamas-Aktivisten präsentiert sich die israelische Gesellschaft so geschlossen wie selten zuvor - im Gegensatz zur palästinensischen

Was tun, wenn der Gegner übermächtig scheint? Die Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde tun sich immer schwerer, sich einheitlich zu präsentieren oder den Eindruck zu erwecken, als stünden sie für eine halbwegs geschlossene palästinensische Sache.

Achmed Abdel Rachim, Kabinettssekretär in Yassir Arafats Ministerrunde, wurde in der letzten Woche vorgeschickt, die Erschießung der Hamas-Terroristen Adel Awadallah und seines Bruders Imad durch israelische Soldaten als "geplantes Verbrechen Israels, das den Friedensprozeß torpedieren soll", zu verurteilen.

Solche Rhetorik ist nicht ungewöhnlich, doch kam sie früher von palästinensischen Spitzenpolitikern. Die aber halten sich zur Zeit zurück. Denn sowenig Arafat und seine Kollegen die Aktion, bei der unklar ist, ob es sich um eine gezielte Erschießung oder die Tötung während eines Schußwechsels handelte, gutheißen mögen, so sehr ist doch zu erkennen, wie zufrieden sie sind, daß sie sich nicht mit der Hamas anlegen müssen. Insgeheim ist die Freude groß, daß Israels Armee den ungeliebten Job übernimmt.

Der Tod der Awadallah-Brüder Anfang September in einem Dorf nahe Hebron erscheint vielen israelischen Kommentatoren und vermutlich auch großen Teilen der Arafat-Behörde als beruhigendes Ereignis. Adel Awadallah war Chef der Izzedin Al Kassam, des militärischen Flügels der Hamas. Sein Bruder Imad wurde von der Autonomiebehörde verdächtigt, im Januar den Hamas-Chefingenieur Muhi a-Din Sharif erschossen zu haben.

Die Hamas beschuldigt bis heute den israelischen Geheimdienst Mossad, dieses Attentat verübt zu haben. Doch Arafats Polizei hatte Imad Awadallah als Täter ermittelt und ihn festgenommen. Unter Umständen, die von israelischen Zeitungen als dubios geschildert werden, konnte er aber einen Monat vor seiner Erschießung fliehen. Etliche Israelis verstehen das so, als habe sich Arafat vor einer juristischen Behandlung des Falles drücken wollen und die Brüder quasi der israelischen Armee ausgeliefert.

Daß sich die Hamas selbst zerfleischt, wie es der mutmaßliche Mord der Izzedin Al Kassam an Sharif nahelegt, mag eine Hoffnung von Yassir Arafat sein, sehr realistisch aber ist sie nicht. Nach dem Tod der Awadallahs steigerte die Hamas ihre "Bomben auf Israel"-Drohungen und veranstaltete in Hebron eine Demonstration ihrer Aktivisten. Und ihr Gründer Scheich Achmed Jassin kündigte in gewohnter Manier Rache an: "Der blutige Kampf mit den israelischen Kriminellen wird bis zur Befreiung Palästinas fortgesetzt."

Wahrscheinlicher ist, daß sich die Arafat-Administration in den nächsten Jahren auf ein zahlenmäßig geschwächtes, in ihrem Willen zum Terror aber gestärktes Lager der Hamas einrichten muß. Und daß sie gleichzeitig einen wachsenden Anteil der palästinensischen Bevölkerung zu registrieren hat, der sich als jetzige oder künftige israelische Staatsbürger gar nicht so unwohl fühlt.

Etwa 36 Prozent der palästinensischen Bevölkerung Ostjerusalems erklärte in einer Umfrage der Wochenzeitung Jerusalem Times, daß sie an den Bürgermeisterwahlen teilnehmen wollen, bei den letzten Wahlen waren es nur zwölf Prozent. Immerhin noch 54 Prozent der Bevölkerung des Stadtteils, den Arafat als Hauptstadt einer künftigen Republik Palästina ansieht, lehnen eine solche, über Wahlen hergestellte Anerkennung der lokalen Behörden ab. Dies war bislang auch die Argumentation der Autonomiebehörde, doch ziemlich genau fünfzig Prozent der Befragten sagen, die Behörde, die immerhin beansprucht, künftig Ostjerusalem zu kontrollieren, solle sich nicht darum kümmern, ob die Bewohner wählen wollen oder nicht.

Weniger, aber umso entschlossenere Hamas-Kämpfer einerseits, eine wachsende Zahl mit Israel zufriedene Palästinenser andererseits, und dazwischen eine bröckelnde Menge an treuen Arafat-Anhängern - dies ist etwa das Bild, das man sich zur Zeit von den palästinensischen Autonomie-Gebieten machen kann.

Parallel zu dieser Ausdifferenzierung der palästinensischen Gesellschaft zeigt sich die israelische sehr geschlossen, zumindest was ihre Haltung zur Hamas angeht. "Die Eliminierung der Brüder und der Ruf der Hamas nach Rache bringt wieder die Frage auf, ob das Töten von Top-Terroristen nicht eine Welle der Gewalt bewirkt und die Bereitschaft der Hamas zu neuen Attacken erhöht", fragt zwar der Kommentator der liberalen Tageszeitung Ma'ariv, Oded Granot. Er relativiert aber sofort: "Die klare Antwort ist, daß die Hamas keinen Anlaß benötigt, um schreckliche Attentate in Israel zu verüben. Die Tatsache, daß es solche Vorfälle in der letzten Zeit nicht gegeben hatte, ist eine Kombination aus Erfolg der Präventivmaßnahmen und ein bißchen Glück. Es hat nichts mit der Motivation der Hamas zu tun."

Die linksliberale Ha'aretz tat sogar, was sie sonst sehr selten macht: Sie zeigte Verständnis für die von Israel im Gefolge der Tötung und der Demonstrationen verhängten Ausgangssperren für Palästinenser als "notwendige Maßnahmen", plädierte aber dafür, daß diese nur sehr kurzfristig angewendet werden sollten. Und die Boulevardzeitung Yediot Ahronot verwirft sogar die Version von Verteidigungsminister Yzhak Mordechai, wonach die Tötung auf einen Schußwechsel zurückzuführen sei. Lobend schreibt sie: "Die Entscheidung, die Brüder zu eliminieren und die Art wie die Entscheidung ausgeführt wurde, war korrekt."

Die Entwicklung der letzten Monate zeigt deutlich, daß der Friedensprozeß und das Oslo-Abkommen nichts von dem genommen haben, was aus israelischer Sicht als Recht und Pflicht zur Selbstverteidigung beschrieben wird, von anderen als die Tat einer "halben Kolonialmacht", so Georg Baltissen in der taz, wahrgenommen wird. Eine von vielen Israelis noch vor wenigen Jahren befürchtete Erosion der israelischen Gesellschaft durch den Friedensprozeß ist bislang ausgeblieben. Indizien waren damals die Ermordung des Ministerpräsidenten Yzhak Rabin durch einen rechtsextremen Israeli und der unmittelbar folgende Wahlerfolg des konservativen Benjamin Netanjahu.

Doch jetzt hat sich herausgestellt, daß sich die palästinensische Gesellschaft viel deutlicher verändert hat als die israelische. Die Aussicht auf eine friedvolle Zukunft hat die Wahrnehmung des israelischen Nachbarn nachhaltig zum Positiven verändert.

Und ähnlich wie in der israelischen Gesellschaft eine Weile die extreme Rechte durch zunehmende Isolation und entsprechend verzweifelten Terror auf sich aufmerksam machte, so offenbart sich der schwindende Einfluß der Hamas zur Zeit auch in ihrer immer wütender werdenden Rhetorik, ihren internen Zwistigkeiten, die - so sieht es bis heute aus - zum Mord von Imad Awadallah an Muhi a-Din Sharif führten. Als einziger konsequent handelnder Akteur präsentiert sich die israelische Armee, die sich auf eine erstaunlich stabile Zustimmung der israelischen Gesellschaft stützen kann.

Erkannt hat diesen Konsens, der ungewöhnlicherweise auch den ansonsten eher unbeliebten Ministerpräsidenten Netanjahu einschließt, Avigdor Lieberman, früherer Bürochef Netanjahus und immer noch dessen enger Vertrauter. Liebermann schlug jüngst vor, die Gunst der Stunde zu nutzen und aus Israel eine Präsidialdemokratie zu machen - mit Netanjahu als israelischem Clinton. Der so Umschmeichelte, dessen Beliebheit in der eigenen Partei, dem Likud, trotz aller erreichten Normalisierung einfach nicht zunehmen möchte, erklärte gleich, daß der Vorschlag "positive Aspekte" enthielte, rechnete dann aber nach und erkannte, daß für diesen Vorschlag garantiert nie eine Mehrheit zustande käme.

Soweit reicht die neue Geschlossenheit in Israel dann doch nicht: Michael Eitan, Likud-Abgeordneter, nannte gar Netanjahus und Liebermans Pläne den Versuch, eine "Diktatur wie unter Franco oder Stalin" zu errichten. Man sieht: Die Ablehnung der Idee erfolgt einhellig und so gewohnt souverän, daß auch sie als Beleg für die neue (oder wiedergewonnene) Stabilität angesehen werden kann.

Indes versucht Arafats Autonomiebehörde die Situation des großen und mächtigeren Nachbarn dergestalt zu nutzen, daß man Israel handeln läßt, selbst abwartet und so demnächst wieder den Friedensprozeß vorantreiben kann.