Sterben als Richtlinie

Mit den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung wird das Lebensrecht schwerbehinderter Neugeborener weitgehend preisgegeben

"Etwas Besseres als den Tod findest du überall" - ein Satz aus einem Märchen, das heute niemand mehr schreiben würde. Jene, die dort aus verzweifelter Lage ausziehen, um die Welt zu erkunden, würden nicht einmal die Kriterien erfüllen, die heute in den westlichen Industrienationen als Voraussetzung für das Recht auf Leben angesehen werden.

Der Tod und wie er am schnellsten zu verwirklichen ist, wenn die schönen Jahre vergangen sind, in denen Leistungswille und Konsumbereitschaft in der Blüte stehen, ist heute zum Topthema geworden. Da wollen auch die Ärzte nicht länger hintenanstehen und sich als Sachwalter des Lebens einen schlechten Ruf einhandeln. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, die am 11. September verabschiedet wurden, sind ein beredtes Dokument dieses Paradigmenwechsels, der sich in Deutschland etwas mühseliger vollzieht als anderswo.

Ein Wechsel, der dafür aber auch gründlicher vonstatten geht: Medizinethische Debatten sind hierzulande stets auch als Versuch zu verstehen, einen Neuanfang zu machen und damit aus dem Schatten der Medizinverbrechen des Dritten Reiches herauszutreten.

Nicht zufällig faßte die Bundesärztekammer parallel zu den ärztlichen Vorgaben für die Sterbebegleitung auch die Ethik-Richtlinien über die fremdnützige Forschung mit Nicht-Einwilligungsfähigen neu - womit nun auch die Ansätze des "Menschenrechtsübereinkommens für Biomedizin" (Bioethik-Konvention) für die Bundesrepublik nutzbar gemacht werden.

"Als ich junger Assistenzarzt in Erlangen war, hat mein Professor mir beigebracht: Auch ein Krebspatient im Finalstadium wird bis zuletzt mit Maximaltherapie behandelt. Er gehörte wie andere Ärzte, bei denen ich gelernt habe, zur Generation derer, die das Dritte Reich im Beruf erlebt haben und davon geprägt waren: Über Lebenserhaltung darf nicht diskutiert, sie muß unbedingt praktiziert werden, war in Erinnerung an die Medizinverbrechen ihr Credo."

Professor Volker von Loewenich, Kinderarzt am Uniklinikum Frankfurt zählte dennoch zu den Medizinern, die Mitte der achtziger Jahre gemeinsam mit Juristen und Philosophen die "Einbecker Empfehlungen" konzipiert hatten. Die Wissenschaftler unternahmen damit den ersten Versuch, umfassende Behandlungsbegrenzungen für bestimmte Patientengruppen durchzusetzen.

In diesen "Empfehlungen" ging es um schwerbehinderte Neugeborene: Die an Einzelfällen orientierten Regelungen, wie sie die Akademiker bewußt unter Ausschaltung von Betroffenenverbänden und Elterngruppen entwickelten, stießen öffentlich und in den Kliniken auf herbe Kritik. Sie wurden daraufhin so weitgehend modifiziert, daß ihnen nichts mehr zu entnehmen war. Die Zeit war noch nicht reif. Die Bioethik-Debatte steckte noch in den Anfängen.

In der Neufassung der gegenwärtigen Sterbehilfe-Richtlinien tauchen jetzt trotzdem völlig unerwartet grundlegende Gedanken aus den damaligen Debatten wieder auf. Hieß es in der ersten überarbeiteten Version noch, daß nur bei "Neugeborenen mit schwersten kongenitalen (angeborenen; O.T.) Fehlbildungen" der Einsatz "außergewöhnlicher technischer Hilfsmittel" nach Rücksprache mit den Eltern unterbleiben oder abgebrochen werden darf, wird jetzt detailliert eine weitaus größere Patientengruppe für die "Sterbehilfe" freigegeben: "Bei Neugeborenen mit schwersten Fehlbildungen oder schweren Stoffwechselstörungen, bei denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht, kann nach hinreichender Diagnostik und im Einvernehmen mit den Eltern eine lebenserhaltende Behandlung, die ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktion ersetzt, unterlassen oder nicht weitergeführt werden. Gleiches gilt für extrem unreife Kinder, deren unausweichliches Sterben abzusehen ist und für Neugeborene, die schwerste Zerstörungen des Gehirns erlitten haben."

Zwar ist in der Öffentlichkeit herausgestrichen worden, wie die überarbeiteten Richtlinien Selbstbestimmungsrechte der Patienten stärken - gerade davon kann aber mit Blick auf hirngeschädigte oder andere schwerbehinderte Neugeborene nicht die Rede sein. Hier wird das Lebensrecht einer Gruppe von Patienten weitgehend preisgegeben, ohne daß ein anderes Motiv ersichtlich wäre, als daß diese Kinder ihren Eltern - und der Gesellschaft - nicht zur Last fallen sollen. Diese Entscheidung, über die selbst die ausführliche Pressemitteilung der Bundesärztekammer kein Wort verliert, wurde im Windschatten der Kontroverse über den Nahrungsentzug für Wachkoma-Patienten durchgesetzt. Gerade deshalb dokumentiert sie, wie notwendig eine umfassende öffentliche Kontrolle in diesem Bereich ist - und wie schwer es fällt, diese zu gewährleisten.

Zur Behandlung der Wachkoma-Patienten beziehen die Richtlinien dagegen äußerst widersprüchlich Position: Grundsätzlich grenzen sie sich von den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften ab, in denen die Tötung durch Nahrungs- und Therapieentzug bei schwer hirngeschädigten Menschen in weitem Umfang zugelassen wird. Bei den Patienten wird nicht nur die Pflicht zur künstlichen Ernährung ausdrücklich konstituiert.

In dem Kapitel, das darlegt, wie der Wille eines Patienten zu bestimmen ist, wird im Zweifel nicht wie beim Bundesgerichtshof auf "allgemeine Wertvorstellungen" und damit für einen Behandlungsabbruch plädiert, sondern für die Ergreifung "der ärztlich indizierten Maßnahmen". Das dürfte in jedem Fall die Ernährung und nicht das Verhungernlassen sein.

Andererseits wollten sich die Autoren offensichtlich nicht schroff gegen die Karlsruher Richter wenden. Sie haben deswegen eine vage Ausnahmeklausel in die Passage "Behandlung bei sonstiger lebensbedrohender Schädigung" aufgenommen: Bei "fortgeschrittener Krankheit" soll auch bei diesen Patienten eine "Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen in Betracht kommen". Als Beispiel wird der "unwiderrufliche Ausfall weiterer Organfunktionen" genannt - eine zweifelsohne sehr schwere und lebensbedrohliche Komplikation, bei der das Problem aber sicher nicht die Fortführung der künstlichen Ernährung wäre.

Und um die Verwirrung komplett zu machen, wird an ganz anderer Stelle, nämlich dort, wo es um die Frage von Patiententestamenten geht, noch kurz zustimmend Bezug auf den skandalösen Beschluß des 20. Zivilsenats des OLG Frankfurt genommen. Die Richter hatten in einem waghalsigen Analogieschluß Betreuer von Wachkoma-Patienten in Zusammenarbeit mit den Vormundschaftsgerichten zu uneingeschränkten Herren über Leben und Tod der Betreuten machen wollen.

Die Bundesärztekammer resümiert nun diesen Beschluß: "Nach der Rechtsprechung (Oberlandesgericht Frankfurt/Main vom 15.7.1998 - Az: 20 W 224/g8) ist davon auszugehen, daß auch für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen im Vorfeld der Sterbephase" Vormundschaftsgericht und Betreuer initiativ werden können. Sprich: All die schönen Worte über die Gebotenheit der künstlichen Ernährung, die zwei Abschnitte zuvor gemacht wurden, könnten hier wieder zur Disposition gestellt werden. Wie so oft, wenn Verwirrung herrscht, ertönt jetzt der Ruf nach dem Gesetzgeber: Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig hat seine Hilfe angeboten und manche "Euthanasie"-Gegner, aber auch "Euthanasie"-Befürworter möchten das staatliche Schiedsgericht gerne annehmen.

Daß ein Sterbehilfegesetz irgendwelche Verhältnisse zum Humaneren wenden würde, kann aber spätestens nach den Erfahrungen mit der Debatte über das Transplantationsgesetz im Bundestag nicht ernstlich erhofft werden. Auch 57 Jahre, nachdem der Entwurf eines "Gesetzes über Sterbehilfe für Lebensunfähige" zurückgenommen wurde, ist von einer Regelung, die die Tötung durch aktive Maßnahmen oder auch durch Unterlassen institutionalisiert, nichts Erfreuliches zu erwarten.

Die Richtlinien der Bundesärztekammer, die keine rechtliche Regelung schaffen, werden dagegen solange vergleichsweise unbedeutend bleiben oder gar behindertenfreundlich interpretiert werden, wie sich gegen eine andere Auslegung nachhaltiger Protest in der Gesellschaft und vor allem in den Kliniken regt.

Der Autor ist Verfasser des Buches "Wann ist der Mensch ein Mensch?", Hanser Verlag, München 1993