’Ne Viertel Minute Pinkeln

Die Sparmaßnahmen der Pflegeversicherung führen zur Überforderung des Pflegepersonals. Als Folge zählt Gewalt in Altersheimen zum Alltag

Fesseln, Gitter, Nahrungsentzug, Schläge - Mißhandlungen gehören zum Alltag in so manchem Altenheim. Das Verbrechen, für das die Bewohner und Bewohnerinnen büßen müssen, ist ihr hohes Alter: Durch Verwirrtheit und körperliche Beeinträchtigung werden sie für das überlastete Pflegepersonal zur Überforderung.

Auf diese Situation machte eine gemeinsame Initiative von Sozialverbände und Altenhilfeorganisationen aufmerksam, die vor wenigen Wochen in Bonn ins Leben gerufen wurde. Zu den Initiatoren zählen der Sozialverband Reichsbund, das Kuratorium Deutsche Altenhilfe, der Deutsche Berufsverband für Altenpflege, der Verein "Handeln statt Mißhandeln - Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter" und der Münchener Arbeitskreis gegen Menschenrechtsverletzungen.

Mit Blick auf eine Untersuchung des Professors Thomas Klie kritisiert der Verband die hohe Zahl der "freiheitseinschränkenden Maßnahmen" in Altenpflegeheimen. In dieser "Freiburger Studie" wurden gewalttätige Vorfälle in 26 Altersheimen unter die Lupe genommen, in denen insgesamt über 3 000 Menschen leben. Das Ergebnis war erschreckend: Die Wissenschaftler registrierten 2 200 Übergriffe pro Tag - von Schlägen bis zur Verabreichung von Medikamenten zur Ruhigstellung. Rolf Dieter Hirsch, Vorsitzender von "Handeln statt Mißhandeln", rechnet die Zahlen auf die Bundesrepublik hoch und kommt dabei auf 400 000 solcher Fälle pro Tag.

Diese Zahlen könnten, so Hirsch, allerdings nur einen Eindruck vom tatsächlichen Ausmaß geben. Beschimpfungen, Erniedrigungen und Vernachlässigungen gehörten zum Alltag. Da die Opfer selbst meist nicht mehr in der Lage seien, sich gegen die Mißhandlungen zu wehren, müsse man mit einer weitaus höheren Dunkelziffer rechnen.

Oft finden Heimbesucher ihre Angehörigen im Bett mit hochgezogenen Gittern vor, ohne daß sie oder der pflegebedürftige Mensch dazu ein Einverständnis gegeben hätten. Die ursprünglich zum Schutz gegen Herausfallen gedachten Gitterbetten werden zu Bettkäfigen umfunktioniert. Gegen diese illegale Praxis zu klagen, sei jedoch äußerst schwierig, erläutert Fred Erkens von "Handeln statt Mißhandeln". Dies könnten allein die Angehörigen tun, die davor jedoch oft aus Angst vor weiterer Vernachlässigung und Mißhandlung zurückschreckten.

Alexander Frey, Mitglied des Münchener Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen, sieht hierzu jedoch keine Alternative. Beschwerden bei der Heimleitung brächten meist gar nichts. Besser sei es, sich anonym bei anderen Stellen zu melden und zur Presse zu gehen. Von der Heimaufsicht, neben dem Medizinischen Dienst einziges Kontrollorgan der Heime, hält Frey nicht viel: Deren Mitglieder seien häufig mit den Betreibern eng "verbandelt" und somit nicht mehr neutral.

Verantwortlich für die Gewalt ist nach einhelliger Meinung der an der Initiative beteiligten Organisationen nicht das Pflegepersonal selbst, sondern deren Überlastung und mangelnde Fachkompetenz. Deshalb gehe es auch nicht darum, die Pflegekräfte anzugreifen, wie Axel Jürs vom Reichsbund betont, "sondern vielmehr darum, mit allen Betroffenen für Bedingungen zu kämpfen, die menschenwürdig" seien. Viele gingen mit sehr hohen Idealen in den Beruf der Altenpflege, seien dann aber derartigen Überlastungen ausgesetzt, daß sie sich bereits nach fünf Jahren nach einem anderen Job umschauten.

Deshalb fordern die Verbände mit ihrer Ende August ins Leben gerufenen Initiative, daß der Anteil von Fachkräften auf mindestens sechzig Prozent heraufgesetzt wird. Derzeit liegt der Personalschlüssel durchschnittlich bei eins zu 2,8. Durch Schichtbetrieb, Urlaub und Krankheit liegt die tatsächliche Zahl weitaus höher. Im Schnitt werden etwa 28 Bedürftige von zwei bis drei Altenpflegern oder -pflegerinnen betreut, von denen nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums gerade einmal 30 bis 40 Prozent über eine entsprechende Ausbildung verfügen. Dabei gilt für Fred Erkens eine abgeschlossene Ausbildung als Voraussetzung für die Sicherstellung einer menschenwürdigen Pflege. Unausgebildete Kräfte wie beispielsweise Zivildienstleistende würden oft nur unzureichend auf ihr konfliktträchtiges und psychisch belastendes Arbeitsfeld vorbereitetet und dadurch überfordert.

Doch gerade die vermeintlich hohe Fachkraftquote ist Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) ein Dorn im Auge. Als im März die Übergangsfrist für die in der Heimpersonalordnung festgelegte 50-Prozent-Quote auslief, nahm er dies zum Anlaß, diese Vorgabe grundsätzlich in Frage zu stellen: Die pauschale Festlegung, nach der die Hälfte ausgebildete Kräfte sein müssen, gefährde die Finanzstabilität der Pflegeversicherung. Mit solchen Äußerungen löste der Unionspolitiker bei Sozialverbänden sowie der Interessenvertretungen von Altenheimbewohnenden und Pflegenden einen Sturm der Entrüstung aus. Daraufhin wurde der Angriff zurückgenommen und die Übergangsfrist um zwei Jahre verlängert.

Spätestens bei Lektüre des von Blüms Ministerium kürzlich vorgelegten Bericht zur Entwicklung der Pflegeversicherung nimmt die Sorge ums Geld groteske Züge an: "Ohne Schönfärberei" könne festgestellt werden, daß die Pflegeversicherung erfolgreich arbeite. Sie helfe 1,7 Millionen Bedürftigen, entlaste die Sozialhilfe um rund zehn Milliarden Mark und stehe insgesamt auf einem sicheren finanziellen Fundament. Schließlich liege die Rücklage der Versicherung mit 8,9 Milliarden Mark wesentlich höher als erwartet.

Warum Blüm die Fachkraftquote

abbauen und gleichzeitig Milliarden von "Überschüssen" im Pflegeversicherungstopf verkündet, kann sich auch Axel Jürs vom Reichsbund nicht erklären. Die Gelder möchte er jedenfalls nicht als Überschuß verstanden wissen, sie sollten daher zur Qualitätssicherung der Pflege ausgegeben werden.

Gerade die Einführung von Blüms "Jahrhundertwerk" Pflegeversicherung ist an der desolaten Situation in Altenpflegeheimen nicht ganz unbeteiligt: Zwar hat sie bewirkt, daß ein Großteil der Fälle, zumindest wenn sie sich in den Pflegestufen eins und zwei befinden, nicht mehr zu Sozialfällen werden. Dennoch, so kritisiert Erkens, würden viele durch die finanziellen Anreize für die Angehörigen nun "bis auf den letzten Drücker" zu Hause gepflegt und kämen erst als Schwerstpflegefälle ins Heim.

Dadurch hat sich die Struktur der Altenpflegeheime verändert. Das Durchschnittsalter beim Eintritt ist mit 86 Jahren deutlich angestiegen, der Grad der Pflegebedürftigkeit im Durchschnitt um eine Stufe höher als in den letzten Jahren. Dieser Wandel der Heime hin zu "Sterbehäusern" hätte nach Meinung von Erkens durch mehr Personal und einen größeren Anteil qualifizierter Kräfte begleitet werden müssen. Da dies versäumt wurde, sei die Belastung der Pflegekräfte noch stärker angestiegen.

"Für menschliche Beziehungspflege und Zuwendung haben die Beschäftigten in den Heimen einfach keine Zeit", schätzt Erkens die Situation ein. Auch das durch die Pflegeversicherung festgelegte "Modulsystem" - starre Zeitbudgets, in die die einzelnen Pflegeschritte eingeteilt worden sind und für die Pflegekassen danach minutiös dokumentiert werden müssen - sei "schwer nachvollziehbar". Reichsbund-Sprecher Jürs ergänzt: Oft führt die Verpflichtung der Pfleger und Pflegerinnen, die einzelnen Schritte zu den unmöglichsten Zeiten auszuführen, dazu, daß "nachmittags um vier das Abendessen ausgeteilt und nachts um zwei gebadet wird".

Auch Dieter Peuker von den Grauen Panthern in Berlin kritisiert das Modulsystem: "Da darf man dann eine Minute kacken und 'ne viertel Minute pinkeln - das ist in der Pflege überhaupt nicht anwendbar. Das kommt daher, weil das Mathematiker ausgerechnet haben und keine Fachleute."

Volker Bästlein, Pressesprecher des Bundesfamilienministeriums, verweist indes lediglich auf das Kontrollorgan der Heimaufsichten, die in der Verantwortung der Länder stünden. Obwohl man die von den Sozialverbänden aufgezeigten Fälle genau untersuchen müsse, sollte man die Vorwürfe nicht überbewerten - "Schwarze Schafe" gebe es schließlich überall.