Fast ein Roter Oktober

Russische Gewerkschaften und Parteien mobilisieren zum Sturz von Jelzin

In den Oppositionsbewegungen der UdSSR gab es Ende der achtziger Jahre einen Witz: Die beste Methode, eine Bewegung kaputt zu machen, ist, sich an ihre Spitze zu stellen. Daran erinnert man sich jedes Mal, wenn turnusgemäß ein Protesttag in Rußland ansteht. Beispielsweise der am 7. Oktober.

Gründe für Protest gibt es genug: Die Gewerkschaften beziffern die Lohnrückstände mittlerweile auf eine Gesamtsumme von 75 Milliarden Rubel (etwa 75 Millionen Monatsdurchschnittslöhne). Die Betriebsleiter erklären, sie hätten zu wenig Bargeld, um Löhne auszuzahlen, weil der Staat seine Schulden bei den Betrieben nicht begleiche und die Geldmenge künstlich begrenze. Der Staat sagt, daß die Unternehmen bereits privatisiert seien und die Eigentümer die Gewinne in Finanzspekulationen stecken.

Nach offiziellen Statistiken sind zwei Millionen Menschen arbeitslos, die Gewerkschaften, die die Berechnungsmethoden der Internationalen Arbeitsorganisation verwenden, kommen auf 15 Millionen Arbeitslose. Millionen von Menschen überleben nur dank dem, was ihre kleinen Gemüsegärten hergeben. Aber auch die, denen Löhne ausgezahlt werden, haben ständig wachsende Probleme. Zu Sommeranfang lag das Existenzminimum in Moskau bei 1 500 Rubel, mittlerweile wird es doppelt so hoch geschätzt.

Auf den ersten Blick sieht die Planung für den Protesttag beeindruckend aus: Streikaktionen in 37 000 Betrieben mit rund neun Millionen TeilnehmerInnen, Demonstrationen, Straßen- und Eisenbahnblockaden usw. Allein, miteingerechnet werden die Betriebe, in denen ohnehin gestreikt wird, ansonsten soll rein symbolisch einige Stunden lang die Arbeit niedergelegt werden; und in den meisten Städten und Regionen - wie beispielsweise in Moskau - begnügt man sich mit Demonstrationen. Regelmäßig verlaufen derartige Proteste routinemäßig und langweilig.

Es ist nicht davon auszugehen, daß dieser Ablauf dieses Mal durchbrochen wird. Dafür sprechen schon allein die Hauptorganisatoren des Protesttages: Die Gewerkschaften und verschiedene politische Parteien.

Der ehemalige Gewerkschaftsverband aus SU-Zeiten, jetzt umbenannt in Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Rußlands (FNTR), ist weiterhin ein Koloß mit mehreren Millionen Mitgliedern. Doch dieser Riese steht auf tönernen Füßen. Unter dem KPdSU-Regime gab es keine Gewerkschaften im Sinne einer Interessensvertreung der Arbeitenden, sondern nur eine korporatistische Arbeitsstruktur, die sowohl ArbeiterInnen als auch "sozialistische" Bosse und Administratoren vereinte. Zumindest die Betriebsdirektoren sind heute nicht mehr in den Gewerkschaften organisiert, wohl aber die kleinen und mittleren Kader des Managements. Aus den alten FNTR-Zeiten haben die Gewerkschaften ein gewaltiges Eigentum behalten, und sie verspüren keine Lust, es durch allzu radikale Aktionen zu gefährden. Der Wohlgenährte versteht den Hungrigen kaum, sagt ein russisches Sprichwort.

Und so erklären sich die FNTR-Gewerkschafter zu Anhängern der Sozialpartnerschaft. Vorbehaltlos unterstützen sie die Prinzipien der Marktwirtschaft - die sie gern mit einigen keynesianischen Elementen versehen würden - und hoffen, daß deren Resultate nicht auf Kosten ihrer Klientel gehen.

Die einfache Frage ist nur: Auf wessen Kosten soll dann in Rußland das marktwirtschaftliche Programm vollstreckt werden? Auf Kosten der neureichen Unternehmer?

Mit denen würde die FNTR gerne ins Gespräch kommen, und sie würde ebenso gerne ihren Einfluß auf die Regierungspolitik ausbauen. Nur ein kleines Problem bleibt: Weder die Regierung noch die Neureichen wollen die Gewerkschaften als seriöse Partner akzeptieren.

Mittlerweile gerät die riesige, in innere Cliquenkämpfe verwickelte Bürokratie der FNTR-Gewerkschaften in ein Dilemma. Einerseits möchten die Gewerkschaftsfunktionäre keine wirklich aktive Massenbewegung stimulieren - zu leicht könnte ihnen die Kontrolle entgleiten. Andererseits können sie, vor allem auf der lokalen und betrieblichen, teilweise aber auch auf der regionalen Ebene, den wachsenden Unmut ihrer Basis nicht mehr ignorieren. So wollen sie zumindest vortäuschen, daß sie eine Protestbewegung organisieren würden.

Die FNTR und ihr politisches Anhängsel, die Union der Arbeit, fordern am 7. Oktober die Auszahlung der rückständigen Löhne sowie vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Alternativvorschläge zur Krisenbekämpfung haben sie nicht.

Wie gewöhnlich ist zur Vorbereitung auch dieses Protesttages ein Aktionsbündnis von PolitikerInnen entstanden, die an diesem Schauspiel teilnehmen wollen und ihre eigenen Ziele verfolgen. Im Vordergrund steht hierbei die Partei von Gennadij Sjuganow, die offiziell den Namen Kommunistische Partei der russischen Föderation trägt, in der Realität aber eine betont nationalistische Tendenz der traditionellen Werte ihrer Anhängerschaft widerspiegelt. Sie vertritt die Interessen breiter, aber schwächerer Schichten des sogenannten nationalen Kapitals und des militärisch-industriellen Komplexes.

Die KPFR betreibt ein Doppelspiel: Einerseits möchte sie ihren Einfluß auf die neue Regierung ausbauen, in der auch sie ihre Vertreter sitzen hat. Andererseits möchte sie nicht für die Krise verantwortlich gemacht werden, weswegen sie auf Distanz zur Regierung geht. Und vor allem will sie ihren alten Lieblingsrivalen, Präsident Boris Jelzin, stürzen.

Auch die volkspatriotische Koalition mit der KPRF an der Spitze, die über beträchtlichen Einfluß in einigen regionalen und lokalen Gewerkschaftsstrukturen verfügt, nimmt aktiv an den Protesten teil. Sie fordert vor allem den Rücktritt Jelzins, die Stimulierung der einheimischen Produktion und spricht sich gegen eine monetaristische Politik aus.

Andere Elemente der Protestfront mit geringerem Einfluß sind einige kleinere sozialdemokratische Parteien, die eher bürgerlich orientiert sind und wenig mit der Tradition der europäischen Sozialdemokratie oder der ArbeiterInnenbewegung zu tun haben. Auch die Radikalstalinisten aus der russischen kommunistischen Arbeiterpartei und die Stalino-Antisemiten um Viktor Anpilow dürfen nicht fehlen. General Lebed wird die Demonstration in Krasnojarsk anführen, wo er selbst Gouverneur ist.

Also, meine Damen und Herren Kapitalisten: Kein Grund zur Beunruhigung - die neue russische Revolution findet noch nicht statt. Dafür müßte zunächst einmal eine wirklich unabhängige ArbeiterInnenbewegung entstehen. Und die existiert bislang nicht.

Die meisten neueren Gewerkschaften und Streikkomitees sind kaum radikaler als die FNTR. In den letzten Monaten machte wieder eine von der FNTR unabhängige BergarbeiterInnen-Gewerkschaft, die NPG, von sich reden. Noch 1992 war sie eine der Hauptstützen von Jelzins Regime und wollte damals "nicht gegen ihre Regierung streiken". Seit Juni organisiert sie ein Protestlager vor dem Regierungsgebäude in Moskau und proklamiert die Gründung eines sogenannten allrussischen Streikkomitees, das niemanden vertritt außer die NPG selbst und eine Fabrik in Samara.

Die NPG-Protestler fordern den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung. Was weiter? Das wissen sie nicht und wollen es auch nicht wissen. Eine Perspektive wie die generalisierte Selbstverwaltung der Betriebe, eine gesellschaftliche Alternative formulieren sie nicht.

Im Protestlager steht ein großes Schild mit der Erklärung: Alle Flugblätter und Parolen, die mit der Leitung der NPG vorher nicht abgestimmt wurden, sind verboten. Initiativen anderer Betriebsdelegationen, die sich nicht aus Bergarbeitern zusammensetzten, aber kamen, um diese zu unterstützen, wurden dort abgebügelt. Beispielsweise wurden die Vorschläge der ArbeiterInnen des Maschinenbaukombinates Rostselmasch im südlichen Rostow und einiger anderer, eine regelmäßige und souveräne Generalversammlung der Protestierenden zu organisieren, abgelehnt. Und andere ArbeiterInnen außer den NPGlern und den Leuten aus Samara verließen das Protestlager.

Erste Ansätze einer radikaleren Strömung, die kritisch gegenüber rituellen und symbolischen Protesten ist und betriebsorientierte Auseinandersetzungen favorisiert, existieren bereits. Da sind z.B. die AktivistInnen von Rostselmasch, die selbstverwaltete und in der Generalversammlung organisierte Kämpfe praktizieren. In diesem Betrieb wurde die Belegschaft in den Reformjahren von ursprünglich 50 000 auf höchstens 23 000 Beschäftigte ausgedünnt; es wird weiter entlassen, und die Werksleitung verkauft heimlich die Betriebsausstattung. Radikalere Tendenzen finden sich auch in einigen Streikkomitees und lokalen Gewerkschaften, wie beispielsweise in der Gewerkschaft Solidarität von Jaroslavel. Das aber ist noch viel zu wenig, um von einer realen, sozialen Erschütterung sprechen zu können.