Silence, on discute!

Nach heftigen Protesten will Belgiens neuer Innenminister nun das Asylgesetz abschwächen. Aber nur ein bißchen

"Um 11.15 Uhr haben sie mich ins Flugzeug gebracht, wo ich anfing zu schreien und zu weinen. Sie haben mich am ganzen Körper gequetscht und einer von ihnen drückte mir ein Kissen ins Gesicht. Er hätte mich beinahe erstickt ... Am Flughafen gibt es welche, die sind fähig zu töten."

So hatte Sémira Adamu den vierten Versuch beschrieben, sie aus Belgien abzuschieben. Protokolliert für das Buch "Barbelés de la honte" (Stacheldraht der Schande), das Anfang dieser Woche in Belgien erschienen ist. Am 22. September wurde Sémira Adamu von zwei Angehörigen der Brüsseler Flughafen-Gendarmerie getötet. Erstickt in einem Kissen, in das einer der beiden Polizisten ihren Kopf mehrere Minuten lang preßte, während der zweite ihre gefesselten Hände festhielt und ein dritter die Szene filmte. Sémira Adamu war zwanzig Jahre alt und aus Nigeria nach Belgien gekommen, um einer Zwangsheirat mit einem 65jährigen zu entgehen.

Wenn Louis Tobback, Bürgermeister von Leuven, Mitglied der flämischen Sozialistischen Partei und bis vor kurzem Innenminister Belgiens, zur Feder greift, hört sich das wesentlich anderes an: "Die Flüchtlinge mißbrauchen das Asylverfahren. Sie fallen hier ein, so wie sich Möwen auf Abfälle stürzen, weil es einfacher ist hier zu leben, als bei ihnen zu Hause Fische zu fangen." Kein Wunder, daß er zunächst die Gendarmen verteidigte. Daß einer der beiden trotz einer Disziplinarstrafe wegen Mißhandlung eines Flüchtlings erneut bei einer Abschiebung eingesetzt worden war, konnte Tobback dann allerdings kaum noch rechtfertigen.

Parteifreunde wie -gegner werfen ihm Rassismus und einen Law-and-Order-Diskurs vor. Die flämische Christdemokratin Erika Thijs meinte, der Minister habe offenbar "den Atem des Vlaams Blok im Nacken gespürt". Dennoch war der Rücktritt des belgischen Innenministers Ende September alles andere als erzwungen (Jungle World, Nr. 40/98). Premierminister Jean-Luc Dehaene hatte ihn ausdrücklich gebeten zu bleiben. Zu wichtig schien ihm der Innenminister und Vize-Premier für das diffizile Gleichgewicht innerhalb der Koalitionsregierung aus Christdemokraten und Sozialisten.

Der Tod der jungen Asylbewerberin - die in den belgischen Medien nur noch beim Vornamen genannt wird, ganz so als sei sie ein verstorbenes Mitglied einer großen um sie trauernden Familie - hat Politik und Gesellschaft in Aufruhr gebracht: Zunächst wurde ein Abschiebestopp verkündet und einige Immigranten aus sogenannten "geschlossenen Zentren" freigelassen. In solche Internierungslager werden Immigranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus eingesperrt. Tobback begründete die Freilassung allerdings damit, "bewaffnete Demonstranten mit der festen Absicht, alle Insassen zu befreien", seien im Anmarsch gewesen. Den Freigelassenen setzte der Innenminister eine fünftägige Frist, das Land zu verlassen. Noch inhaftierte Flüchtlinge traten in einen Hungerstreik, den sie mittlerweile jedoch abgebrochen haben.

Das belgische Asyl- und Einwanderungsrecht wurde zuletzt 1996 verschärft - mit den Stimmen aller im Bundesparlament vertretenen Parteien mit Ausnahme der Grünen und des rechtsextremen Vlaams Blok, dem die Änderungen nicht weit genug gingen. Nun wird es von fast allen Seiten als inhuman kritisiert. Fernsehen und Presse berichten und diskutieren über den "Fall Sémira", Abschiebungen, die geschlossenen Lager und die belgische Asylpolitik.

Eine Initiative für die Regularisierung der Sans-Papiers wurde unter Beteiligung zahlreicher Prominenter ins Leben gerufen; auf etwa 50 000 wird die Zahl der zum Teil schon viele Jahre ohne gültige Papiere im Land lebenden Immigranten geschätzt. An Universitäten und Schulen wurde der normale Unterricht gestrichen für Diskussionen über den Umgang mit Asylbewerbern. Flughafen- und Airline-Beschäftigte sowie Passagiere haben auf dem Brüsseler Flughafen exakt eine Woche nach ihrem Tod eine Schweigeminute für Adamu eingelegt. Die Gewerkschaft der Sabena-Piloten erklärte, man wolle in Zukunft keine "unfreiwilligen Passagiere mehr befördern". Die belgische Fluggesellschaft hatte bislang bei den Abschiebungen eng mit staatlichen Stellen kooperiert und mit den fast 4 000 Abschiebungen allein dieses Jahr ein gutes Geschäft gemacht. Der Chef der Flughafen-Gendarmerie ließ sich mittlerweile von seinem Posten entbinden. Dan•el Liebmann vom Kollektiv gegen Abschiebungen ist zuversichtlich, "daß zumindest per Flugzeug keine Abschiebungen mehr stattfinden werden".

Selbst die regierenden Sozialisten und Christdemokraten wollen nun das nach Tobbacks Amtsvorgänger benannte Vande-Lanotte-Gesetz ändern. Die stellvertretende Vorsitzende der frankophonen Christdemokraten und Vorsitzende des Senats-Innenausschusses, Jo'lle Milquet, verweist auf einen Bericht, den der Senat vor der Sommerpause verabschiedet hatte und der die Zustände in den geschlossenen Zentren als "zum Teil härter als in Gefängnissen" bezeichnet.

Auch hinsichtlich des Ruhighaltens Abzuschiebender mit Kissen, stellten sich dem Ausschuß "ernste Fragen", hieß es in dem drei Monate vor dem Erstickungstod Sémira Adamus vorgelegten Bericht. Außerdem forderten die Senatsmitglieder, daß eine unabhängige Instanz die geschlossenen Zentren kontrollieren soll, und daß ein "Status B" für Flüchtlinge geschaffen wird, denen kein politisches Asyl gewährt wird. Bislang ist eine Anerkennung von Flüchtlingen nur dann zulässig, wenn sie individuell politisch Verfolgte im Sinne der - eng ausgelegten - Genfer Flüchtlingskonvention sind. Der Status B soll eine befristete, verlängerbare Aufenthaltsgenehmigung sowie bestimmte soziale Rechte beinhalten und etwa für Bürgerkriegsflüchtlinge gelten.

Der neue Innenminister, Luc Van den Bossche, hat bereits eine Kabinettsvorlage erarbeitet, die im wesentlichen auf dem Senatsbericht basiert. Kissen sollen demnach nicht mehr eingesetzt werden, und es soll eine bedingte Regularisierung durch Einzelfallprüfung geben. Allerdings, so befürchtet nicht nur die linke Tageszeitung Le Matin, dürften wohl kaum tiefgreifende Reformen beschlossen werden. Die geschlossenen Lager sollen nämlich nicht abgeschafft werden, allenfalls soll die Höchstdauer der Inhaftierung von acht auf zwei Monate gesenkt werden. Auf Abschiebungen will man keineswegs verzichten, und das neuzuschaffende Amt eines "Flüchtlingskommissars" wird nur eine beratende Funktion haben.

Neben der inhaltlichen Debatte über die zukünftige Ausländerpolitik hat der aus dem Amt geschiedene Tobback mit dem Konflikt zwischen französischsprachigen Wallonen und (mehrheitlich frankophonen) Brüsselern einerseits und den Niederländisch sprechenden Flamen andererseits einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet: Die "zunehmende Kluft zwischen der schweigenden Mehrheit zumindest der Flamen und den frankophonen Meinungsführern" mache ihn besorgt, erklärte Tobback. "Verabscheuungswürdig" finde er "die Doppelzüngigkeit besonders auf der frankophonen Seite", sich nun flugs von dem Asylgesetz zu distanzieren.

Insgesamt sollten dieses Jahr 15 000 Ausländer aus Belgien abgeschoben werden. Diese "Abschiebungsquote" hatte die Regierung Dehaene festgelegt - gut 3 000 mehr als 1997 haben einen Asylantrag gestellt. Sémira Adamu hätte eine von diesen 15 000 werden sollen. Und doch war sie auch schon vor ihrem Tod nicht nur eine von vielen. Das Kollektiv gegen Abschiebungen hatte im Sommer eine Kampagne für Sémira gestartet. Sogar der Vorsitzende der wallonischen Sozialisten hatte sich im Zuge der Kampagne in einem Brief an Innenminister Tobback für den Verbleib der Nigerianerin eingesetzt.

"Silence, on deporte!" - Ruhe, hier wird deportiert! - war eine Losung des Kollektivs gegen Abschiebungen. Mit der Ruhe ist es in Belgien erst einmal vorbei, in Lüttich demonstrierten am Sonntag etwa 8 000 Menschen vor einem neugebauten "geschlossenen Zentrum". Mit den geplanten 15 000 Abschiebungen wird es also wohl nichts mehr. Zumindest nicht in diesem Jahr.