Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Doris Gercke lebt als Schriftstellerin in Hamburg

Es ist schon komisch, daß eine wie ich, die sich überhaupt nicht für Fußball interessiert, nach dem Sparwasser-Tor gefragt wird - und sehr merkwürdig dann, daß ich mich trotzdem und ziemlich genau an diesen Tag erinnere, immerhin nach 24 Jahren.

Ich war damals Mitglied im Kreisvorstand der DKP in Hamburg-Bergedorf. Unser Vorsitzender war Karl-Heinz Unger, ein klassenbewußter Arbeiter. Er und seine Frau waren, glaube ich, die ersten "richtigen Kommunisten", die ich während meiner Apo-Zeit kennengelernt habe. Ich habe sie sehr bewundert und viel von ihnen gelernt. Karl-Heinz war älter als ich und arbeitete als Glaser beim Bau. Das war damals eine sehr schwere körperliche Arbeit. Deshalb war der Genosse Unger abends zu kaputt, um unsere endlosen Sitzungen zu leiten, auf denen, wie wir glaubten, wichtige politische und strategische Fragen geklärt wurden - mindestens dreimal die Woche. Es war deshalb meine Aufgabe, den Genossen als Vorsitzende zu vertreten. Ich hab' das gerne gemacht - mit ein wenig schlechtem Gewissen, denn ich war nicht immer sicher, ob ich alles richtig machte.

Das schlechte Gewissen hatte ich auch, als ich erfuhr, daß ich, vermutlich stellvertretend für ihn, den Auftrag bekam, für einen der Reisebusse mit DDR-Bürgern, die zum Spiel gekommen waren, eine Stadtführung zu machen und die Leute danach ins Volksparkstadion zu begleiten.

Ich erinnere mich, daß ich irgendwo in der Stadt in den Bus gestiegen bin und dann versucht habe, den Besuchern die Stadt zu erklären. Kritisch natürlich. Vermutlich haben mich die Leute im Bus für nicht ganz bei Trost gehalten. Aber sie haben mir ohne zu murren zugehört. Irgendwann sind wir dann im Stadion gelandet.

Es war eine merkwürdige Stimmung um uns herum. Viel Bier wurde getrunken, die DDRler haben sich nicht gleich getraut, für ihre Mannschaft zu schreien. Aber irgendwann war dann alle Vorsicht vergessen. Ich hab' mich unbehaglich gefühlt und war froh, als die Sache vorbei war. Der Bus mit den zufriedenen DDRlern fuhr gleich nach dem Spiel nach Rostock zurück, und ich war erlöst.

Am nächsten Tag gab's eine "Einschätzung" des Ablaufs der Aktion. Da hab' ich erst mitgekriegt, daß meine Aufgabe wohl auch darin bestanden hatte, dafür zu sorgen, daß die DDR-Bürger in meinem Bus noch vollzählig waren, als ihr Bus zurückfuhr. Es war aber so, daß, jedenfalls aus meinem Bus, es niemand vorgezogen hatte, im Westen zu bleiben.

Ich glaube, aus irgendeinem vertrackten Grund hätte ich dem Genossen Unger ungern gebeichtet, daß mir jemand abhanden gekommen sei. Es wäre mir wie Verrat vorgekommen, obwohl ich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, nicht genau weiß, warum. Vielleicht, weil er enttäuscht gewesen wäre.