Zehn Straßen mehr

Ein Ort weniger I: Auf dem Potsdamer Platz ist man nicht allein. Die ganze Welt guckt zu, wie man aus Brachland möglichst viel Leerraum macht. Am vergangenen Freitag konnte kommen, wer wollte, um nachzusehen, wo Geld und Platz geblieben sind

Eigentlich kann einem der Potsdamer Platz und das, was da für acht Milliarden Mark Investitionsvolumen vor sich geht, egal sein. Verhindern kann man nichts mehr, nützen tun einem teure Angebote nichts, Bauarbeiter sind die wenigsten, und nun ist es ja nicht so, daß sich insgesamt irgend etwas verbessern würde, nur weil egozentrische Architekten aus aller Welt überschüssiges Geld verballern.

Dabei fing alles so gut an. Über Nacht kamen Bomber und machten dem ach so lebhaft-kulturellen Treiben ein Ende. Jetzt mußte man sich zusammenreißen und bescheidener werden. Gut auch, daß sechzehn Jahre später jemand anderes, damit falsche Hoffnungen erst gar nicht aufkommen, quer über das Gelände ein eindeutiges Zeichen namens Mauer setzte.

Auch wenn dann die DDR pleite machte, war noch alles drin. Nur ist es das Tragische an Obdachlosen, daß sie auch noch auf den letzten Funken Würde verzichten, wenn sie dadurch zumindest noch eine gute Minute im Leben haben können. Deshalb hat es keine Mauer mit Türen gegeben, und man mußte alles über den Zaun brechen, anstatt sachte mit dem Obsthandel zu beginnen.

So ist auch nichts aus einem Sparwasser-Denkmal auf dem Platz geworden, unter dem es täglich Revanche hätte geben können. Kein Schwarzmarkt. Kein Amüsement durch für jeden zugängliche Ost-Rock-Konzerte. Keine Begegnungsstätte für FDJler und Pfadfinder. Keine Containerbehörde, wo man sich entweder hätte freikaufen können oder wo man ausbezahlt werden würde, für den Fall, daß man das Land freiwillig verläßt. Kein Treffpunkt für senile Spione. Keine Riesen-Systemkonkurrenz-Performance. Keine "Wir-sind-das-Volk-nein-wir-Spiele". Kein Forum, wo Bürgerrechtler sich endlich zu Hause fühlen könnten und niemanden stören würden.

Die Realität der Nach-Wende-Zeit sah - man glaubt es kaum - dann auch anders aus: "Rumäniens pfiffigste Hütchenspieler agierten vor den Augen hilfloser Polizisten. Vietnamesen hökerten mit unversteuertem Nikotin. Sizilianer verkauften geklaute Lederjacken, Ukrainer ihre Frauen oder Töchter. Touristenbusse blieben stehen - Berlin hautnah zum Gruseln." (Extraheft der Berliner Morgenpost vom 2. Oktober 1998) Mann, Mann, Mann. Ist mir ganz entgangen. Und dann haben Senat und höchste Stellen, damit das unvorstellbare Grauen ein Ende hat, sicherheitshalber den Beschluß zum rigorosen Zu- und Einmauern des unbewachbaren Potsdamer Platzes als potentiellem Stützpunkt des ausländischen Verbrechens gefaßt.

Aber nicht, daß jemand gesagt hätte: "Wenn wir schon alles vollbauen, dann aber mal richtig und zwar mit jedem bedeutsamen Unternehmen der Welt und Pipapo." Jetzt aber hat man gerademal Sony, debis und noch so Luschen an Land gezogen. Was heißt an Land gezogen: Gerade mal Sony (Unterhaltung) und debis (Verwaltung) haben sich den Platz unter den Nagel reißen wollen. Das spricht ja schon für sich. Wer will denn da noch hin?

Und was da an Kulissen hochgezogen wird, reicht ja nicht mal für eine filmreife Zerstörungsorgie durch Außerirdische oder für eine coole Adresse. Die Zitty signalisierte jedenfalls Ablehnung: "Allerdings: So richtig nach Berlin sehen die Terrakottafarbenen Fassaden rechts und links auch wieder nicht aus ..." (Zitty, Nr. 20/98) Ja, Mensch, muß das denn sein? Skepsis überall: "Was soll aus dem Ganzen bloß werden? Eine Stadt in der Stadt? Das Wahrzeichen Berlins? Oder einfach nur ein neues Stadtviertel?" (Max, Nr. 10/98) Keiner weiß es.

Außer Sony vielleicht: "Bis zum Jahr 2000 entsteht auf dem markanten, dreieckigen Areal ein architektonisches Ensemble, dessen dynamische Mischung aus Business, Wohnkultur und Entertainment ein neues Lebensgefühl schafft." Ach so. Und die Berliner Zeitung setzt noch ein Stockwerk drauf: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Stadtgeschichte aus, und man darf froh sein, wenn man es sich leisten kann, noch dabeizusein." (Sonderbeilage der Berliner Zeitung vom 2. Oktober 1998) Jetzt sind schon Epochen unerschwinglich. In welcher Zeit leben wir denn?

Was aber bisher passiert ist: Nicht viel. Die zirka 1 000 pro Tag eingesetzten Lastkraftwagen haben angefangen, die kalkulierten sechs Millionen Tonnen Erdaushub, vier Millionen Tonnen Beton, allerhand Geräte, Baustoffe und 200 000 Tonnen Abfall zwischen Baustelle und Logistikstandort am Landwehrkanal hin und her zu transportieren. Die 5 000 Arbeiter der 350 Firmen haben über und unter Wasser genau 31 Gebäude in Angriff genommen, eines schlimmer als das andere, sind von 450 Architekten und Ingenieuren und 300 Behördenstellen just in time bei Wind und Wetter herumgescheucht worden und mußten sich schon mal mit ärgerlichen Wassereinbrüchen herumschlagen.

Die 60 Kräne haben einmal zu Musik und Dirigent nichts weiter gemacht, als sich zu drehen, da waren alle hin und weg. Auf einer Richtfest-Party sollten die Herren Architekten, Bauherren und Politiker eine anständige Bewehrung flechten, worauf sich die Arbeiter schlappgelacht haben, ehe sie völlig ausgerastet sind, als die Go-Go-Girls ihre Schicht antraten.

Und am vergangenen Freitag war dann die Eröffnungsparty der debis GmbH. Zuerst nicht öffentlich mit Bundespräsident und Masterarchitekt Renzo Piano ("Kolumbus wußte auch nicht, wo er ankommen würde ..."), dann volksnah mit Polizeikapelle und nichts für umsonst. Draußen war es so kalt wie in Stalingrad und am Eingang zu den Arkaden stand Folgendes: "Damit Sie sich wohlfühlen, ist es erforderlich, daß einige Dinge geregelt sind ... Ihr Centermanagement." Kurze Zeit später hatte die Polizei den ersten gekrallt. Der hatte, wie sich herausstellte, nichts verbrochen, nur war er der wirklich einzige, der anders aussah. Dafür durchwühlte eine Beamtin seinen Rucksack, und der Sicherheitsmann klopfte ihm anschließend (wieder Freunde?) auf die Schulter.

Zwei Meter weiter fand das Interview einer Lokalredakteurin statt: "Wie finden Sie denn den Platz?" Antwort Ami: "Oh, it's wonderful." Ein angehender undankbarer Architekt meinte aber, die Daimler-City werde kaum zum Nabel von Berlin werden, die Wohn- und Shoppingmöglichkeiten seien eher Pseudo-Angebote. Die Wahrheit sei, daß abends tote Hose sein wird und selbst die etwa 10 000 Angestellten nach Dienstschluß das Weite suchen werden, sehr wahrscheinlich in Prenzlauer Berg.

Draußen kam es zum zweiten Zwischenfall, dem Auftritt der Gruppe Plan B, die - keine drei Minuten da - schon von Beamten inspiziert wurde: Aus dem Flugblatt zur vermeintlichen städtebaulichen Strategie der Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Räume: Sie entspreche dem "Versuch, all jene aus dem Stadtbild zu verdrängen, die sich nicht in den Kreislauf von Vermarktung und Konsum einreihen können oder wollen". Wollen schon, können nicht, ist wohl wahrscheinlicher.

Übrigens: Die zwanzig Millionen Mark für den Bau der neuen U-Bahn-Station Mendelssohn-Bartholdy-Park, eine weitere Anfahrtsmöglichkeit zum Platz, wurden von der BVG vorgestreckt. Ab 2002 wollen Bund und Land die Kosten erstatten. Nanu? Wird doch noch alles gut und mein Ticket dann wieder billiger?