Banlieues, Bildung und Bewegung

Das Maßnahmenprogramm der französischen Regierung ist bei den Jugendlichen nicht so gut angekommen. Nach den Herbstferien wird deshalb weiter protestiert

Frankreichs SchülerInnen geben so schnell nicht auf: Diese Woche haben sie zwar Herbstferien, aber bereits am Donnerstag kommender Woche wollen sie wieder auf die Straße gehen. Für den 5. November hat zunächst die unabhängige Schülerkoordination CIL, die in Abgrenzung zur sozialdemokratischen Schülergewerkschaft FIDL unter anderem von KP-Jugendlichen und Trotzkisten mitgegründet wurde, zu einem landesweiten Aktionstag aufgerufen. Mittlerweile hat sich auch die FIDL, die in den letzten Wochen versuchte, die Proteste für sich zu vereinnahmen, dem CIL-Appell angeschlossen.

Dabei hatte sich bei einer Demonstration am Dienstag letzter Woche ein Rückgang der TeinehmerInnenzahlen abgezeichnet. In ganz Frankreich waren rund 300 000 Schüler auf die Straße gegangen, wenige Tage zuvor waren es noch eine halbe Million gewesen (Jungle World, Nr. 43/98). Ursache dafür sind sowohl angesetzte Prüfungen als auch ein für den Tag darauf angekündigter Maßnahmenkatalog von Bildungsminister Claude Allègre. Auffällig war außerdem die hohe Polizeipräsenz am Rande der Pariser Demo; rund 5 500 Beamte waren im Einsatz. Die meisten Demo-TeilnehmerInnen aus den Banlieues mußten mindestens ein halbes Dutzend Personenkontrollen zwischen den Vorstadtbahnhöfen und ihrem Zielort passieren.

Insgesamt wurden nahe der Demonstration in Paris 152 sogenannte casseurs ("Kaputtmacher") festgenommen. Aber bei den Spannungen zwischen demonstrierenden SchülerInnen und den im Umfeld der Protestmärsche agierenden casseurs, die insbesondere auf der Jagd nach Markenklamotten und Mobiltelefonen sind, stehen sich offensichtlich weniger zwei gegensätzliche soziale Gruppen gegenüber als vielmehr zwei unterschiedlich sozialisierte Milieus aus denselben "Problemzonen" der Banlieues.

Denn die Jugendlichen der Trabantenstädte sind nicht nur unter den casseurs, sondern auch bei den SchülerInnendemonstrationen selbst stark überrepräsentiert. Vor allem Mädchen aus marokkanischen und algerischen Familien, die durch die Gesellschaft und die eigene Familie am stärksten benachteiligt sind, spielen in dieser Bewegung eine deutliche Führungsrolle. Bei FIDL (Lubna Méliane und Ebtissem Mechali als Sprecherinnen der zu Allègre geschickten Delegation) wie CIL (Jihane Ben Salah) zählen sie zu den wichtigsten Aktivistinnen.

So lehnt die CIL deshalb die von Allègre angekündigte Verringerung der Wochenstundenzahl als klaren Schritt zu einem "Zwei-Klassen-Bildungssystem" mit niedrigerem Niveau für die SchülerInnen aus "sozial schwachen" Zonen strikt ab. Offensichtlich will der sozialistische Bildungsminister mit dieser Maßnahme Sympathien unter den SchülerInnen gewinnen. Insgesamt hat sein Programm allerdings eher Enttäuschung und Ablehnung hervorgerufen.

Vorgesehen ist im "Plan Allègre" beispielsweise, umgerechnet etwa eine Milliarde Mark für die Instandsetzung und den Neubau von Schulgebäuden auszugeben. Den französischen Staat, dessen Haushalt zur Einhaltung der Maastrichtvorschriften aber stabil bleiben soll, soll dies jedoch kaum etwas kosten. Deswegen vergibt die Zentralregierung das eingeplante Geld auch nur als zinsfreien Kredit an die den 22 Regionalregierungen.

Die konkrete Ausgestaltung dürfte sich daher regional recht unterschiedlich auswirken - abhängig davon, wie arm oder reich die Region ist und wer dort regiert. In jenen vier Regionen, die von faktischen Bündnissen aus Konservativen und Neofaschisten geführt werden, wird man sich wohl kaum für den Zustand der Schulen in den Immigrantenvierteln und den Banlieues interessieren.

Außerdem sieht der Plan des Ministers 14 000 Neueinstellungen vor, darunter jedoch keinen einzigen Lehrer, denn nach der Regierungsdoktrin sollen keine neuen Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen werden. Vorgesehen sind 3 000 Aufsichtspersonen (meist Studierende) zu jeweils 14 Stunden die Woche, die Schaffung von 10 000 emplois-jeunes - staatlich subventionierte Arbeitsplätze für Jugendliche auf maximal fünf Jahre - als "Sicherheitskräfte" und die Abstellung von 1 000 Wehrpflichtigen.

Die unter Premierminister Lionel Jospin mitregierende KP enthielt sich bei der Abstimmung über das Budget des Bildungsministeriums der Stimme. Dafür konnte sich der ultraliberale Alain Madelin - Frankreichs Berlusconi-Nachahmer - lautstark für das Programm von Allègre begeistern. Offensichtlich versprechen sich rechte Politiker davon, die Parteibasis der Sozialisten - unter der sich auch viele Lehrer befinden - gegen das Kabinett Jospin aufzubringen.

Für Fran ç ois Bayrou, einst christdemokratischer Bildungsminister, ein klarer Fall: "Ein Teil der Rechten will das Bildungswesen zerstören. Allègre bedient diese Politik." Das sei eine "perverse Allianz" zwischen "einem Teil der Rechten und einem Teil der Linken".