Das Tom Boy-Thema

"Tod in Venedig" plus "Hot Pants College" - "Love and Death on Long Island"

Die Filmkritik sei der verlängerte Arm der Filmindustrie, behauptete einst André Bazin, und manche nehmen es damit genau: Was soll ich nur machen, jammerte Mariam Lau 1997 auf dem Bremer Symposion zur Filmkritik, ich muß Filme loben, die auf irgendeine Weise eng mit Literatur, Malerei, Theater und Musik zu tun haben. Aber was mache ich bloß mit "Twister" und "Independence Day" - wo sich die anderen amüsieren? Darf ich da auch rein und das geil finden?

Nun müssen "Literatur, Malerei, Theater und Musik" weder ohne Action noch ohne Sex auskommen, und "Independence Day" ist auch noch kein Beweis dafür, daß dem Kino "der Jahrmarktsgeruch noch in den Kleidern hängt" (Lau). Wichtig scheint allein, daß im eigenen Ordnungskatalog die Ressentiments enthalten sind, die sonst keiner im Angebot führt. Dann findet man heraus, "daß es gerade die Fähigkeit des Kinos zur Hervorbringung ungewollter körperlicher Reaktionen der Tränendrüsen, des Zwerchfells oder sogar Hoppla! der Geschlechtsorgane sein könnte, die in vielen ein solches Ressentiment (Ö) gegen das Kino als Ganzes hervorruft" (Lau).

Offensichtlich denken wirklich die Leute, speziell die Filmkritiker so. Und für die existieren intellektuelle Identifikationsangebote, z.B. Thomas Mann. "Tod in Venedig" heißt diesmal "Love and Death on Long Island" und ist ein Roman von Gilbert Adair, den sich der englische Regisseur Richard Kwietniowski vorgenommen hat. "Adair hielt das Buch für unverfilmbar", heißt es in den Produktionsnotizen. Das sind Dinge, die man erzählt, wenn man den Status des autonomen Künstlers retten will, das ist spannend auch für unser Selbstbild und die VG-Wort-Gebührenausschüttung. Es muß also nicht wundern, daß sich Kwietniowski in seinem Film "Love and Death on Long Island" allgemeinverständlich des Problems Hoch- vs. Popkultur angenommen hat.

Giles De'Ath (John Hurt) ist ein alternder Schriftsteller, der in einem herrschaftlichen Haus in London lebt. Sein Leben verläuft in geraden Bahnen: Ab und an wirft er ein Buch auf den Markt und geht dann los, um Vorträge vor erlauchten Gesellschaften zu halten. Sein letztes Werk heißt so einfach wie doppeldeutig: "Der Tod der Zukunft". Giles hat gelernt, vor sich hinzugrübeln. Die letzten Errungenschaften der Zivilisation hat er daher eher beiläufig wahrgenommen. Er ist verwitwet, um seine Belange kümmert sich eine Haushälterin. Wohl fühlt er sich bei den Malern der Klassik im Museum.

Und so sollte es eigentlich bleiben. Bis Giles eines Tages sein einziges Vergnügen zum Verhängnis wird. Zu gern hätte er sich einen Pornofilm angeschaut, statt dessen landet er in dem amerikanischen Teeniestreifen "Hot Pants College II". Schon möchte er genervt das Kino verlassen, aber da kommt die entscheidende Szene dazwischen: Der in einer Pizzeria schuftende Held wird von einer Jugendgang verhöhnt, man legt ihn auf den Tresen und spritzt Ketchup über seinen Körper. Giles hat seinen Filmriß: Liegt der junge Typ nicht da wie der Dichter Chatterton auf seinem Lager in der Galerie drüben, in Öl gemalt?

Giles fühlt sich genötigt, genauer hinzusehen. Und kann sich vom Anblick des Trash-Darstellers Ronnie Bostock (Jason Priestley) nicht mehr lösen. Von den verträumten Augen, dem verlorenen Blick. Giles rennt verwirrt aus dem Kino und begibt sich fortan auf die Suche nach der richtigen Literatur: Bravo Girl und Mädchen (engl. Version) durchforstet er nach dem begehrten Ronnie-Stoff.

Ronnie lebt auf Long Island und das mit Freundin und Hund (in der Reihenfolge). Giles legt eine Akte ("Bostockiana") an, sammelt alles über Ronnie. Und wenn er die einschlägigen Magazine kauft, wickelt er sie in die Financial Times. Auch nach Bostocks Filmen ist er natürlich wild, er checkt in einer Videothek ein, weiß gar nicht, wie man Videos abspielt, läßt sich einen sündhaft teuren Recorder aufschwatzen, merkt aber erst zu Hause, daß man auch einen Fernseher braucht, um Videos anzusehen.

Dann aber geht es los: Er schwelgt in den Filmen Ronnie Bostocks, die bemerkenswerte Szenen enthalten (wenn keine Möpse im Bild sind, läßt Bostock seine Highschool-Feinde im Misthaufen versinken). Auch die Zuschauer schwelgen in den Filmen Ronnie Bostocks. Denn Giles' neues Fernsehgerät ist leinwandgroß. Seine Hausdame braucht er fortan nicht mehr ("Je mehr Staub man wischt, desto mehr Staub gibt es"). Und gibt sich dem schönen Vergnügen hin, den oberflächlichen Filmen, die ihm und uns so viel Spaß bereiten, weil sie so lustig sind und blödestes Popcorn-Kino. Wer also von sich aus nicht in "Hot Pants College II" gehen will, der ist mit "Love and Death on Long Island" auch ganz gut bedient.

Die Homosexualität ist erwacht. Giles' Liebe zu dem jungen Schauspieler mit den großen grünblauen Augen, Schwarm aller Mädchen, ist groß, und so kauft sich Giles eines Tages ein Flugticket nach New York, mietet sich auf Long Island in einem Motel ein. Giles beginnt, die Nachbarschaft auszuhorchen, sein Ziel ist schließlich, Ronnie Bostock zu finden. Im Telefonbuch steht er nicht. Nur durch Zufall läuft ihm eines Tages Bostocks Hund über den Weg. Er folgt ihm zu einem Haus, wo eine junge Frau zu tun hat. Es ist Audrey (Fiona Loewi), Ronnies Freundin. Sie kann sich dem Charme des älteren Mannes nicht entziehen, bittet ihn ins Haus. Ronnie dreht in Los Angeles. Am Telefon berichtet ihm Audrey, ein berühmter Schriftsteller sei um die halbe Erdkugel gereist, weil er an Ronnies künstlerische Fähigkeiten glaube. Der Teenie-Star ist entzückt, macht sich froh auf den Weg nach Long Island. Natürlich entwickelt sich zwischen beiden Männer eine echte Freundschaft.

Audrey ahnt, daß etwas in der Luft liegt: Zwischen ihr und Ronnie entwickelt sich eine Art Konkurrenz um die Gunst des Dichters. Als sie Giles auf ein Fotoshooting mitnehmen will, macht Ronnie einen anderen Vorschlag: Er möchte mit Giles zum Strand fahren. Giles macht seine Entscheidung vom Wetter abhängig. Am nächsten Morgen schlagen Tropfen gegen sein Fenster - doch es ist nur seine Vermieterin, die die Blumen gießt. Die beiden Männer können einen Nachmittag voller philosophischer Gespräche am Strand verbringen.

Bostock, der seinen Werdegang als Hollywood-Star bereits vor sich sah, gerät darüber ins Grübeln. Giles schlägt ihm vor, nach London zu kommen. Er werde ihm weiterhelfen, ein wirklich großer Künstler zu werden. Im Showdown gesteht er Ronnie seine Liebe, er solle Audrey verlassen, die Beziehung stehe sowieso auf der Kippe. Ihm schwebt ein Lebensmodell wie das Rimbauds und Verlaines vor. Bostock aber versteht nur "Rambo" - was hat der mit zwei schwulen Dichtern am Hut? Erschreckt lehnt Ronnie das Angebot ab. Aus Bosheit schickt der zurückgestoßene Giles ihm eine Fax-Wurst, die es in sich hat. Einen Abschiedsbrief, der Ronnie über sich selbst und sein Leben verzweifeln läßt. Der Kulturschock der alten Welt bricht über den bisher unbelasteten Ronnie herein. Giles will ihn zerstören, weil er ihn nicht lieben kann. Dann reist er ab. Mit einem Schmunzeln läßt sich der alte, böse Mann im Taxi über die Brooklyn Bridge fahren.

Mit Hurt und Priestley hat Kwietniowski seine Traumbesetzung gefunden. Und beiden gefiel das Drehbuch sofort. Hurt, weil er immer verrückte Filme dreht. Und Priestley, weil er verrückte Filme braucht. Die Freundschaft zwischen alterndem Schriftsteller und jungem Darsteller: Natürlich kann keiner so gut wie John Hurt den Intellektuellen im Film (das Auslaufmodell, das allenfalls wie Jeremy Irons Lolita noch am Rock zupfen darf) darstellen: Niemand spielt den traurigen alten Mann mit den großen Ohren so gut wie der traurige alte Mann mit den großen Ohren. Hurt, der Elefantenmensch, "Ich, Claudius", Tschechow, Shakespeare - gegen das glatte Gesicht Jason Priestleys, dem die Mädchen als Ronnie Bostock wie im realen Leben an der Tankstelle ein Autogramm abschwätzen. Der James-Dean-Verschnitt, dessen Bewegungen als Zeitlupen-Studien eingefangen sind.

Man hat es nicht mit einem Schwulenfilm zu tun, hier treffen zwei heterosexuelle Männer aufeinander, die ihr homosexuelles Potential entdecken. Wie queer sind wir eigentlich? Selbst die beiden Schauspieler scheinen sich diametral gegenüber zu stehen: Hurt, der alte Knacker, und Jason Priestley, die "Beverly Hills"-Schönheit - ein würdiges Nachfolgerpaar für das Titanic-Duo Leonardo DiCaprio und Kate Winslet? Was hätte eigentlich dagegengesprochen, daß Priestley einfach den Brandon Walsh aus "Beverly Hills" spielt?

"Love and Death on Long Island" ist Kwietniowskis erster Spielfilm. Bisher drehte er Kurzfilme und Serien für das englische Fernsehen. Bemerkenswert ist der trockene Humor des Films. Übrigens Kunst: Es kursiert eine englische Kopie mit holländischen Untertiteln. Ein Film für die Kritik. Solange die sich selbst im Weg steht. Beste Voraussetzungen zur Hervorbringung ungewollter körperlicher Reaktionen der Tränendrüsen, des Zwerchfells oder sogar Hoppla!

Da bliebe zu überlegen: Wenn man eine Meinung nicht haben will, kann man da nicht einfach zwei haben?

"Love and Death on Long Island". GB 1997. R: Richard Kwietniowski, D: John Hurt, Jason Priestley, Fiona Loewi, Sheila Hancock. Start: 29. Oktober